Es war in einem Kassenbüro, als ich von einer Kollegin folgenden Satz hörte:„Wir sind nicht auf der Buttermilch dahergeschwommen“. Obwohl der Kontext klar war, konnte ich so gut wie nichts mit dieser Botschaft anfangen. Das Nachfragen dauerte ein wenig; und auch als mir die Bedeutung verraten wurde, nämlich einen Vorgang oder ein Verhalten zu durchschauen, war ich perplex, da es sich zudem bei der Wendung um eine Variante handelt. Im Online-Wörterbuch Wiktionary ist es die Brennsuppe, auf der man daherschwimmt. Und weitere Recherchen zeigten, dass auf dem Thüringer Schulportal die „Wurstsuppe“ durchschwimmbar ist. Der „MDR Jump Wortinspektor“ hat dazu einen kurzen Podcast erstellt, der allerdings ausschließlich auf die „einfachen, ungebildeten Verhältnisse“ verweist, die mit dieser Redewendung sprachhistorisch ohne Negation in Verbindung stehen. Brennsuppe, Buttermilch und Wurstsuppe gehörten ja zu den sogenannten Arme-Leute-Mahlzeiten dazu. Auch dort, wo sich die „Genussregion Oberfranken“ vorstellt, ist von diesem Hintergrund die Rede:
„Der ist nicht auf der Brennsuppe daher geschwommen“, gilt als sprichwörtliche Umschreibung einigermaßen solider Lebensverhältnisse. Auf der Brennsuppe schwamm demnach wohl derjenige, der sie auch aß, ein unbedeutender oder etwas beschränkter Mensch, der in relativ einfachen Verhältnissen lebte und sich mit einer schlichten Mehlsuppe zufrieden geben musste. Dennoch kann auch hier Schmalhans ein kreativer Küchenmeister sein und zaubert aus der schlichten Suppe einen schnell zubereiteten, würzigen Gaumengenuss.
Hier zeigt die Negation schön, dass der Sprecher bzw. die gemeinte Person sich in ein positives Licht stellen lässt. Und selbstverständlich kann dies auch in gutem Glauben an Personen ohne relativen Wohlstand gelten, wenn man sie zum Beispiel kochen lässt. Dass diese Wendung ebenfalls eine ausgereifte Interpretationsfähigkeit anzeigt, finde ich angesichts des sprachlichen Konstrukts höchst komplex. Denn es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Schlauheit bzw. spezifischen Erfahrungswerten. Offensichtlich gilt aber bei der Wendung: Wer zu mehr Wohlstand gekommen ist, besitzt auch eine höher entwickelte geistige Anlage.
In Verbindung mit einem einfachen Getränk steht die komplexe Bezeichnung für ein Heilwasser der Marke Förstina, das ich kurz vor dem Totensonntag kaufte:
Das Förstina St. Maria-Brunnen Heilwasser enthält in seiner natürlichen Beschaffenheit pro Liter über 1.000 mg Kohlensäure und kann somit in Verbindung mit den weiteren Hauptbestandteilen als ein flouridhaltiger Calcium-Hydrogencarbonat-Sulfat-Säuerling bezeichnet werden.
Dieser „Säuerling“ mit drei vorgeschalteten Substantiven sowie Adjektiv scheint ein zu lang geratender Fachbegriff zu sein. Dem ist aber nicht so, wie mir mein Bruder telefonisch erklärte. Es ist ein „Trivialname“, was angesichts der Wortlänge erst einmal merkwürdig erscheint. Doch wer sich als Kunde mit Mineralwasser auskennt, der kann durch die angegebenen wesentlichen Bestandteile (natürlich im gelösten Zustand) die stoffliche Zusammensetzung gut einordnen und mit anderen Heilwasserprodukten vergleichen. Bei einem etablierten Fachbegriff wäre das womöglich nicht der Fall. Dass das Wasser schwach sauer ist, daran besteht angesichts des „Säuerlings“ kein Zweifel. Dass Wasser mit dem Suffix „-ling“ in Verbindung gebracht wird, finde ich nach wie vor amüsant: ‚Winzling’, ‚Fremdling’, ‚Neuling’, ‚Findling’ sind ja auffällige Gestalten bzw. Objekte, die sich vor dem Auge auftun. Wasser ist prinzipiell unauffällig und schwer zu charakterisieren.
Ganz sicher: Ich werde in der Zukunft kein Lebensmittel mehr zu Hause haben, das mit so einem Wortungetüm in Verbindung gebracht werden kann. Hingegen nehme ich beide Wort-Cocktails gerne in meinen Wortschatz auf, in der Gewissheit, dass ich so schnell nicht wieder auf sie stoßen werde. Sollte ich von ihnen noch einmal hören, werde ich noch am gleichen Tag darauf anstoßen, am liebsten mit demjenigen, der diesen Wort-Cocktail wieder aufgetischt hat!
Im Mai diesen Jahres staunte ich viele Tage über die in der Stadt blühenden Rhododendren. Diese gewaltigen Büsche, die sich zu einem wahrhaftigen Blütenmeer verwandelten, verzauberten den urbanen Raum, weil sie sich so geschickt an und zwischen bebaute Flächen ansiedeln (lassen). Natürlich ist das Verb „ansiedeln“ unpassend; „anpflanzen“ wäre korrekt. Doch ein Foto aus unmittelbarer Nachbarschaft zeigt, wie sehr ein Busch einen Parkplatz in Beschlag nehmen kann:
Viel ist über Aura kulturphilosophisch gesprochen worden. ChatGPT berichtet mir folgendes unter „literarisch-ästhetischer Kontext“:
Der deutsche Philosoph Walter Benjamin prägte den Begriff Aura in seiner ästhetischen Theorie und bezeichnete damit die einzigartige Ausstrahlung oder den besonderen Charme eines Kunstwerks oder einer Person. (…) Die Aura ist also eine Art magische Qualität, die schwer zu greifen, aber spürbar ist und ein Kunstwerk oder eine Person besonders macht.
Für mich hat jener banale Parkplatz, bei dem ich erst nach wiederholtem Nachdenken und Betrachten des Fotos zu dem Schluss komme, dass er für den Zahnarzt höchstpersönlich reserviert ist, da der eindeutiger mit dem Schild „Zahnarztpraxis“ ausgewiesene Parkplatz nebenan in erster Linie für Patienten dieser Zahnarztes bestimmt sein muss (ohne vollkommen eindeutig zu sein, da auch Praxismitarbeiter gemeint sein könnten), etwas Auratisches während der Rhododendronblüte. Der farbenfrohe Dekor scheint sowohl dem Stellplatz als auch dem Aufsuchen eines Zahnarztes bzw. seiner Praxis einen besonderen Charme zu verleihen. Möge der Charme auch nur wenige Sekunden spürbar sein, er lässt sich für mich als Betrachter, der eben diesen Parkplatz wohl nie nutzen wird, nicht leugnen.
Oft ist die Rede davon, dass man die Welt schöner machen solle. Ist dies hier nicht kraft der Natur der Fall? Ein Parkplatz, oft geschmäht wegen seines hohen Flächenverbrauchs, wird hier als solcher verschönert. Was der Mensch nicht vermag, besorgt die Natur.
Dass Parkplätze in Städten ein knappes Gut sind, versteht sich fast von selbst. Das sperrige Konzept der Parkraumbewirtschaftung wird vermehrt auch vor Verbrauchermärkten und Einkaufszentren umgesetzt. Auch in der Provinz wie zum Beispiel am Brückencenter in Hermsdorf-Bad Klosterlausnitz ist mir dies in diesem Herbst diesbezüglich aufgefallen. Spezielle Firmen, wie zum Beispiel die fair parken GmbH werden mit diesem Geschäft“ beauftragt.
Zu DDR-Zeiten gab es dieses Geschäft sicher nicht, weil Parkraum anders als die dort geparkten Fahrzeuge keine Mangel-Erscheinung war. So erscheint das Brettspiel Wir suchen einen Parkplatz, das in den 1960er Jahren vom VEB Spielewerk Karl-Marx-Stadt auf den Markt gebracht wurde, als Ausgeburt der realsozialistisch geprägten Fantasie realitätsentrückt. Dieses Spiel entdeckte ich bei einem Besuch des Deutschen Spielemuseum Chemnitz. Ich erfuhr in dieser kleinen Spiel-Oase, dass Gesellschaftsspiele (anders als Spielzeug) in sozialistischen Zeiten kaum entwickelt wurde, zumindest, was das Gebiet der ehemaligen DDR betraf. Immerhin: Gewisse Ideen muss man nicht entwickeln; sie entstehen einfach in gewissen Köpfen des universellen homo ludens. Man merkt der Zielsetzung des Spiels an, dass sie die Parkplatzsuche des 21. Jahrhunderts vorwegnimmt. Man könnte auch sagen, dass die Mangelwirtschaft des Sozialismus unfreiwillig die Überfluss-Wirtschaft des Kapitalismus karikiert.
An dem interessanten Parkplatzspiel können sich 4 Personen beteiligen. Jeder Spieler erhält 3 Autos, diese muss er auf einem Parkplatz unterbringen. Hat ein Spieler seine Autos auf einem beliebigen Parkplatz untergebracht, ist er Gewinner, und das Spiel ist zu Ende. Wer von den Spielern noch Autos im Spielfeld hat, zahlt für jedes nicht untergebrachte Auto die 5fache Parkplatzgebühr.
Dieses Würfelspiel ist gebraucht noch erhältlich. Wenn man bedenkt, dass man auch mit dem Vermieten von Parkflächen nicht wenig Geld verdienen kann, setzt es sozusagen alternativ die Monopoly-Spielidee um. Wer auf die Zukunft einer attraktiven Umgebung spekuliert, kann hier ganz gut ähnlich wie bei Monopoly sein Geld anlegen. Ob ein größerer Parkplatz sozusagen ein Platzhalter für zukünftige Immobilien ist? In nicht wenigen Fällen ist dies der Fall. Doch eins ist klar: Ein Rhododendron fühlt sich an einem geeigneten Platz in einem Park am wohlsten. Solange der Standort in einem Park stimmt, kann auch ein naher Parkplatz der Blütenpracht nicht schaden!
Hätte ich Zwei Wege in den Sommer (2006) von Robert Habeck und Andrea Paluch während meiner Schulzeit gelesen, hätte ich viel über Erzählstil und Erzähltechnik gelernt, vorausgesetzt, es wäre zu einer mit anderen geteilten intensiven Beschäftigung mit dem Stoff gekommen. Bei der bloßen Lektüre daheim hätte ich wohl viele Aspekte des Buches übersehen. Ein Vierteljahrhundert nach meinem Abitur habe ich nämlich den Eindruck, dass eine Analysebrille das Lesen entscheidend prägt. Ohne die Materialien des dtv-Verlages würde mich dieses Jugendbuch aus dem Jahre 2006 nicht intensiver beschäftigt haben, doch dieses online zugängliche Skript ist quasi Sekundärliteratur, mit Hilfe der sich nicht nur erzählte Inhalte erschließen lassen. Das Problem ist nur, dass der Roman mich damals sicher überfordert hätte und womöglich auch Lehrkräfte mit diesem Buch leicht ins Schleudern geraten.
Es klingt vielversprechend, was in dem „Unterrichtsmodell“ zu Anfang anklingt:
Dieser Roman bietet in seiner bekenntnishaften, zugleich reflexiven und handlungsdynamischen Erzählweise eine Geschichte, in der sich viele junge Menschen mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Problemen wiedererkennen können, und der zu den Themen Identität, Freiheit, Lebensziele, Liebe, Abenteuerlust und Freundschaft viel zu bieten hat.
Die Themenvielfalt ist jedoch so groß, dass die Gefahr der Oberflächlichkeit bei der Besprechung des Romanstoffs besteht. Das Unterrichtsmodell bedient sich Aspekten aus mehreren Fächern (Philosophie, Geographie, sowie Gemeinschafts- / Rechtskunde und Religion werden genannt).
Mich persönlich interessieren am meisten im Buch philosophische und geografische Aspekte. Auf der Erzählebene im Hauptteil (Teil II) sind dies zum einen konventionelle Max’ Reise-Aufzeichnungen auf dem Seeweg in seinem Folkeboot. Einen Teil der Reise legt er mit einer Schwedin namens Elisabeth zurück, die Max aber Isabel nennt, weil er eigentlich eine Unbekannte namens Isabel in Schweden aufsuchen wollte, deren Namen er im dänischen Marstal auf einer unfrankierten Liebespostkarte als Absenderin entdeckte. Daraus wird aber nichts, weil er zwei Städte – Nörrköping mit Nyköping – verwechselte. Eine Reise mit Irrungen und Wirrungen! Zum anderen lesen wir ein Filmskript von Svenja, die mit Ole trampend über den Landweg (vor allem in Güterzügen) gegenübergestellt wird. So ergeben sich zwei Versionen, die beide über ihre jeweiligen Reisen nach Tornio (einer direkten an Schweden grenzenden finnischen Stadt) nach dem Ende ihrer Schulzeit handeln. Die Pointe ist, dass sich die Reisenden (Max und Elisabeth alias Isabel sowie Svenja und ihr Partner Ole) in Tornio treffen, was auch gelingt, jedoch mit ungewissem Ausgang nach der Rückreise in den hohen Norden Deutschlands.
Laut Unterrichtsmodell wird hier die von Friedrich Hegel prominent skizzierte Dialektik auf der formalen Ebene (zwei unterschiedliche Darstellungen aus zwei Perspektiven) veranschaulicht. Das klingt plausibel, auch wenn hier viel Hintergrundwissen noch beigesteuert werden muss).
Ich konzentriere mich nun auf zwei Zitate. Im ersten wird die Sperrigkeit von Hegels philosophischen Erkenntnissen (vor allem zur Dialektik) von Max thematisiert, dessen Leben nach dem Selbstmord seiner Schwester Miriam eine harte Wendung erfuhr. Hier wird nämlich auch auf die Politik angespielt, in der diese äußerst hilfreich sein können. Es geht nämlich um vor allem um Entscheidungsspielräume, die erst einmal mit teils finanziellem, oft nicht einleuchtendem Aufwand geschaffen werden müssen:
Hegels Philosophie ist genauso wie die Politik, die sagt, ihr müsst euch jetzt die Zahnspangen selbst kaufen, damit ihr reicher werdet, ist genau wie die Leute, die sagen, wir können uns jetzt nicht in die Sonne setzen und eine rauchen, weil wir arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, um dann später die Möglichkeit zu haben, in der Sonne zu sitzen und zu rauchen, ist genau wie Eltern, die sagen, erst mal muss man Abitur machen, damit man hinterher selbst entscheiden kann, dass man nicht studieren will.
Ein äußerst schwieriges Themengebiet, wie ich finde. Hier muss man sich tief hineindenken, da sonst die philosophische Grundidee von These, Antithese und Synthese nicht verständlich wird. Denn eigentlich klingt es ja logischer, dass man nicht die Zahnspange selbst bezahlen muss, um reicher zu werden. Kann man dann Zuzahlungen bzw. Selbstbeteiligungen als Ergebnis einer Synthese betrachten??
Auch am Schluss des Romans wird Hegel aufgetischt, was für die meisten Menschen, die mit (Selbst-)Evaluierungen vertraut sind, relevant ist. Somit fällt die Durchdringung einfacher:
Hegel sagt, dass das Nachdenken und das Urteilen und Beurteilen der Grund allen Übels ist, weil es den Menschen von seiner Handlung entzweit. Nur weil man sich fragen kann, ob das gut war, was man gemacht hat, oder ob man es das nächste Mal besser machen kann, grübelt man und lässt Handlungen nicht für sich gelten und stehen. Old Hegel is right.
Philosophisches Kontextwissen wirkt hier angesichts der Tatsache, dass wir mehr denn je von Feedbackschleifen und Feedbackkultur sprechen, sperrig. Genau hier steckt die mögliche Überforderung: Springen hier die Hegel’schen Überlegungen über, die ja durch den Erzähler nicht eins zu eins wiedergegeben werden? Das ist jedem Leser selber überlassen. Mir scheint, dass das Einflechten von These und Antithese in Form von zwei Reiseerzählungen und schließlich von der Synthese (Erkenntnis, dass die dargestellten Beziehungen nicht langlebig waren) für einen Jugendlichen kaum zu durchschauen ist. Verkopft ist der Roman nicht, doch nimmt er sich sehr viel vor. Ähnlich wie die erzählten Reisen begibt sich jeder Jugendliche und darüber hinaus jeder erwachsene Leser hier auf ein waghalsiges Leseabenteuer.
Das Unterrichtsmodell ist hier zu finden. Das längere Zitat daraus ist auf der fünften PDF-Seite zu finden. Der Roman, der für den Jugendliteraturpreis nominiert war, kann bei dtv bestellen werden. Die Hegel-Zitate finden sich auf der älteren Ausgabe des Sauerländer Verlags auf den Seiten 11 und 155.
„Hamburg oder Dresden?“ fragt mich deutlich der Fährmann, als er mich am gegenüberliegenden Ufer der Zschopau wahrnimmt. Ernst kann die Frage nicht gemeint sein, denn nach Dresden lässt sich beileibe auf der Zschopau nicht schippern, auch nicht stromaufwärts. Gen Hamburg ginge es mit ein wenig Phantasie schon, zumindest mit einem Kanu (wenngleich unklar ist, wie viele Meter man davon umtragen muss).
Auf einer knapp zweistündigen Wanderung vom Ausgangspunkt Sachsenburg (mit kurzer Besichtigung einer noch in Ausbauplänen steckenden Gedenkstätte, die auf dem Grund eines der ersten NS-Internierungslager liegt) steuere ich Anfang September zu Fuß die mir noch unbekannte Querseilfähre „Anna“ an, die mich auf das westliche Ufer bringen soll, nachdem ich mit dem Läuten einer Glocke auf meinen Transfer-Wunsch aufmerksam gemacht habe. Ich hatte mich extra telefonisch vorher erkundigt: bis 17 Uhr würde sie in Betrieb sein; in der benachbarten Gaststätte „Wasserschänke“ würde dann auch noch an jenem ersten Septemberfreitag eine Erfrischung bereitstehen, bevor ich dann wieder am anderen Ufer eine knappe Stunde zurücklaufen und mich mit einem Sprung ins Freibad Sachsenburg abkühlen würde.
Der Fährmann bezeichnet sich, als er mich zusammen mit zwei freundlichen Passagieren innerhalb weniger Minuten in der Querseilfähre übersetzt (in diesem wunderschönen Landschaftspanoraoma natürlich viel zu kurz!) als „Queraussteiger“. Das passt sowohl zu seinem Lebenslauf als auch zum Verkehrsmittel: Seinen Lehrerberuf hat er an den Nagel gehängt, und nun steuert er händisch, ohne jede PS-Kraft, die Querseilfähre namens Anna. Diese ist an einem zwischen den Ufern gespannten Führungseil befestigt: Die Muskelkraft reicht aus, um sie mittels einer Hangelbewegung sicher überzusetzen. Manchmal scheint der Mensch in seinem Erfindergeist einfach nur genial zu sein, vor allem angesichts der nicht nur scheinbaren Einfachheit dieser Mechanik und der Physik.
Querseilfähre Anna vom westlichen Zschopauufer aus gesehen
Die Querseilfähre gibt es schon seit den 1820er Jahren, steuert also auf das 200-jährige Jubiläum zu. Anna Erler war in den 1930er und 1940 Jahren für die Gastwirtschaft zuständig; sie ist als direkte Vorfahrin der heutigen Inhaber Namenspatin der Querseilfähre. Als erneut Verheiratete mit dem Nachnamen Ahner musste sie 1939 auch den Tod ihres zweiten Ehemanns verkraften, der bei Hochwasser in der Zschopau ertrank. Anschließend gab es zu DDR-Zeiten keine Gaststätte, die als Dreh- und Angelpunkt dieses Tal hätte aufwerten können. Zum Glück hat die 1991 wiedereröffnete Wasserschänke nach der vorübergehenden Schließung 2023 zum Jahreswechsel neue Pächter gefunden. Eine Einkehr im Biergarten oder in der originellen Gaststube ist empfehlenswert!
Im Amtsblatt der Gemeinde Lichtenau befindet sich in der Ausgabe Juni 2024 auf Seite 29 ein schöner historischer Abriss über die Querseilfähre, verfasst von Günter Teichert.
Wilde Alpentouren ist ein kleiner Reiseveranstalter, der vom Namen her sicher doppeldeutig gesehen werden kann. Jochen Wilde ist der Gründer und lässt mit seinem Nachnamen auch auf die Entdeckung des Wilden, Unberührbaren hoffen.
Meinem Bruder und mir wurde nach einer wegen zu weniger Anmeldungen stornierten Allgäu-Tour die zum gleichen Termin stattfindende 4-Tages-Tour „Märchenhaftes Alpsteinmassiv“ Ende August empfohlen. Das Stichwort Appenzeller Land ließ mich sofort innerlich „ja“ zu diesem Unterfangen sagen; meinem Bruder war diese zum Wandern äußerst attraktive Gegend auch mehr als recht.
3 Hüttenübernachtungen in einer 10er-Gruppe, das war und ist ein maßgeschneidertes Angebot, um den Niederungen des Alltags zu entkommen. Dank des traumhaften Wetters konnte diese Erwartung voll und ganz erfüllt werden. Andrea, unsere Bergführerin, meisterte ihre Aufgabe souverän, obwohl sie kurzfristig einspringen musste und die Region bislang kaum kennt. Da überdies die Tour zum ersten Mal angeboten wurde, fehlten sowohl den Teilnehmern als auch den Organisatoren einige Erfahrungswerte, die hier nur anklingen und von mehreren Stimmen weiter zusammengetragen werden könnten.
Kurz umrissen ist die Route mit den folgenden Stationen: Wildhaus – Terwil-Alm –Zwinglipasshütte (Tag 1) – Chreialpfirst – Mutschenpass – Mutschen (optional) – Saxer Lücke – Berggasthaus Staubern – Furgglenalp – Gasthaus Bollenwees (Tag 2) – Wildalmpass – Rotpasshütte – Säntis – Tierwis (Tag 3) – Gamplüt – Wildhaus (Tag 4).
Auf den bewährten Kartenportalen kann die Route eindeutig nachvollzogen und natürlich auch angepasst werden. Im Internet verfügbare Bilder, zum Beispiel im Outdoor-Magazin, geben bereits einen Eindruck über die unglaubliche Schönheit dieser (hoch-)alpinen Welt.
Ich konzentriere mich nun auf vier Gedanken, die ich auch noch in vielen Jahren als erinnerungswürdig einstufe und die anders als ein klassischer Wanderbericht womöglich seltener in anderen Quellen nachzulesen sind.
Gedanke vom 1. Tag: Ehrenamt
Die Zwinglipasshütte wird von der Toggenburger Sektion des Schweizer Alpinclubs bewirtschaftet und gehört dieser auch. Das bedeutet, dass nur dank vieler Ehrenamtlicher der Hüttenbetrieb aufrecht erhalten werden kann. Hier kommen also Eigentum und Ehrenamt zusammen: Man merkt anhand der freundlichen Grußworte, der exzellenten Bewirtung und weiterer Erläuterungen zum Hüttenbetrieb, dass viel Herzblut in der Zwinglipasshütte gegenwärtig ist. Das imponiert mir, weil sofort ein familiärer Ton vorherrscht und das Willkommen groß geschrieben wird. Dabei ist der Betrieb mühsam: Die Transportseilbahn führt nur bis auf 1800 m; die letzten 200 Höhenmeter müssen also mit großem Marschgepäck zurückgelegt werden. In dieser Saison hat wegen der hohen Buchungszahlen zusätzlich ein Helikopter ausgeholfen, was natürlich sehr teuer ist.
Die Zwinglipasshütte auf 2000 Metern über dem Meeresspiegel
Gedanke vom 2. Tag: Bilderbuchlandschaft
Kein Wunder, dass wir auf den aussichtsreichen Wegen besonders am Wochenende sehr vielen Wanderern begegnen. Wir hören einige gängige Sprachen; Tourismus in der Schweiz ist eindeutig international ausgerichtet, auch weil man in fast alle Regionen schnell und unkompliziert kommt. Vom Züricher Flughafen braucht man selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur knappe zwei Stunden, um eine Wanderung ins Alpsteinmassiv zu unternehmen.
Der Begriff Bilderbuchlandschaft trifft einfach zu: Gerade das Panorama zwischen der Saxer Lücke und dem Gasthaus Staubern bleibt den ganzen Nachmittag in seinen perspektivischen Veränderungen äußerst reizvoll. Nicht nur felsiges Terrain steht uns vor Augen: In den Talböden schimmert das Wasser von drei Seen mitten im satten Grün. Ein Sprung in den Fählensee direkt am Berggasthaus Bollenwees ist an heißen Tagen mehr als nur eine Erfrischung! Ein wunderschönes Foto, auf dem dieser See zu sehen ist, ersetzt hier weitere wortreiche Schilderungen:
Malerischer Blick bis zum Säntis (2502 m) mit seinen Altschneeresten (Foto: Annalena Müller)
Gedanke vom 3. Tag: Eine Seilbahnstütze als sonderbarer Ausstiegsort
Der dritte Tag bot eindeutig die abenteuerlichste, schwierigste und längste Route. Gerade der Übergang von der Rotpasshütte zum Säntis sollte nur von schwindelfreien Bergwanderern begangen werden. Einige drahtseilversicherte und damit ausgesetzte Passagen sind dabei; bei viel Gegenverkehr und schwerem Gepäck wie in unserem Fall ist der Weg natürlich schon beschwerlicher.
Der Säntis-Gipfel ist nahezu komplett bebaut – er stellt sich mit seinem Observatorium in den Dienst der Wissenschaft. Auch ein großes Gasthaus ist selbstverständlich dort. Das Zusammenspiel von Natur und Technik ist in der felsigen Kulisse bizarr, weil es so unwirtlich dort oben ist: Rekordniederschläge und sehr viel Schnee (laut Statistik etwa 10 Meter pro Saison) erschweren dort jeglichen Betrieb.
Die moderne Luftseilbahn hinunter zur Schwägalp ist auch eine technologische Höchstleistung. Wir nehmen sie ein Stück, genauer gesagt bis zur Sütze 2, da wir nicht in Tierwis unser Abendessen verpassen wollen und der Abstieg mindestens genauso hart sein dürfte wie der Aufstieg von der Rotpasshütte.
Diese Stütze als Station zu betrachten ist schon sehr gewagt. Von der Seilbahn führt wie bei einem Aussichtsturm eine Treppe hinunter, mitten ins felsige Gelände. Dass wir für diese kurze Fahrt pro Person 20 Franken zahlen mussten, empört uns. Wer wie jener Seilbahnwärter zum Geldverdienen seinen Job macht, knöpft einfach das Geld ab und kommt mit keinem Wort unserem Argwohn entgegen. Eine Ermäßigung – auf schweizerdeutsch: Halbtax (ich verstehe irrtümlicherweise „halbtags“) – können wir auch nicht vorzeigen; einen Gruppentarif scheint es nicht zu geben, so dass wir uns geschröpft vorkommen. Zum Glück hilft uns der Transfer zeitlich, so dass wir das Berggasthaus Tierwis rechtzeitig zum Abendessen erreichen. In der Dämmerung richten sich viele Handykameras auf gleich zwei Steinböcke, die direkt an der Unterkunft stehen. Wie sie wohl nur so ein Zutrauen entwickeln konnten?
Felsige Bergwelt (mit Stütze 2) mit dem vorübergehend in Wolken gehüllten Säntis, wohin die Seilbahn hinaufführt.
Gedanke vom 4. Tag: Eine gute Laune der Natur
Am Tag des Abstiegs hinunter ins Tal gingen wir wie tags zuvor anfangs durch eine felsige Kalksteinlandschaft. Umso bemerkenswerter war es, dass wir immer wieder einige Wildblumen sahen, von denen der blühende Schnittlauch vielleicht am beeindruckendsten war, weil er in diesen Höhen nicht oft anzutreffen ist. Andrea meinte, dass sie ihn nie zuvor auf alpinen Wanderungen gesehen hat.
Wilder Schnittlauch unterhalb der Tierwis-Alm (Foto: Annalena Müller)
Der Wiedereintritt in Wiesen und Wälder bedeutet, dass wir uns wieder in zivileren Gefilden befinden. Feld- und Forstwege sind trotz des Schotters angenehm zu laufen; kurz nach 13 Uhr sind wir zurück in Wildhaus, wo sich unsere Wege wieder trennen. Erst abends sollte es vor Ort wieder nass werden. Mit einigen Tagen Abstand lässt sich sagen: Die märchenhafte Wandertour habe sicher nicht nur ich als wahrhaftiges Abenteuer erlebt!
Die Tour ist auf der Internetseite von Wilde Alpentouren etappenweise beschrieben. Vielen Dank an Annalena Müller für die Erlaubnis, zwei Fotos aus ihrer digitalen Fotosammlung verwenden zu dürfen!
Der Zwickauer Kornmarkt eignet sich gut für politische Kundgebungen der kleineren Art. Nicht zu groß und vor allem nicht zu belebt – da können Redner jedweder Couleur sich Aufmerksamkeit verschaffen.
Am 19.08. besuchte der deutschlandweit recht bekannte CDU-Politiker Wolfgang Bosbach Zwickau. Da mein Büro an der Westsächsischen Hochschule direkt am Kornmarkt liegt, hatte ich nur wenige Schritte zu laufen, um seinen Ausführungen zu lauschen.
Zuvor hatte ich gegen 18 Uhr Herrn Bosbach schon gesehen, als er im Restaurant No.9 (im First Inn Hotel) allein zu Abend aß. Dabei hatte ich mich gefragt, ob einem Politiker vor einem Auftritt Gesellschaft zuträglich ist oder nicht. Es schien mir jedenfalls, dass meine Gegenwart ohne Anliegen, durchaus erwünscht war. Bosbach hatte tiefgestapelt: Ob überhaupt jemand kommen werde? Eine Person verlor sich halb sieben auf den Zuhörerplätzen.
Als es um 19 Uhr losging – oh Wunder! – waren alle ca. 30 Plätze gefüllt:
Wolfgang Bosbach zu Gast in Zwickau, 19.08.24
Leider wollte die Mikrofonanlage einfach nicht mitmachen – Aussetzer en masse, schrille Töne! Man hatte den Eindruck, dass ohne veritable Störer ringsum (welch ein Segen, dass Protest-Trommler auf ihrem montäglichen Umzug durch Zwickau nur wenige Minuten kurz vor 19 Uhr am Ort vorbeizogen, ohne wiederzukehren.) die Technik der eigentliche Störenfried war.
Gerald Otto, der gastgebende CDU-Landtagsabgeordnete, beging gleich mehrere Fauxpas. Der eindeutigste kam gleich zu Beginn, als sofort aus dem Publikum klargestellt wurde, dass der Nachname des Gastes mit einem offenen ‚o’ und keinem geschlossenen auszusprechen sei.
Das vorwiegend ältere Publikum lauschte andächtig dem Gespräch, das deutlich besser gewesen wäre, wenn es ein Journalist geführt hätte. Es ist nicht trivial, gute 60 Minuten einen Dialog zusammen mit anschließenden Fragen aus dem Publikum zu steuern. Dass thematisch die Migrationspolitik aufgetischt wurde, war wichtig, weil sie vielen auf den Nägeln brennt. Bosbach Wunsch ist, ein gutes Verhältnis aus „Humanität“ und „Ordnung“ hinzubekommen. Das klingt überzeugend. Nur ist es einfach kaum möglich gewesen, seit 2015 für „Ordnung“ zu sorgen, weil es mit dem Grundsatz der Humanität schwer vereinbar gewesen wäre, zumindest Anfang September 2015, als EU-Recht nicht von allen EU-Staaten eingehalten wurde. Auch die Pandemie hat gezeigt, dass die Vielzahl der Schutzverordnungen, die ja zum Ziel haben sollten, möglichst geordnet für den Schutz der Gesundheit vieler Menschen zu sorgen, höchst tückisch in ihrer Anwendung sein kann.
Eine Dame aus dem Pubikum fragte, ob die Politik vorhabe, das Bargeld ganz abzuschaffen. Damit würde ja ältere Menschen endgültig abgehängt. Bosbach antwortete klug, dass es niemand vorhabe. Dass größere Transaktionen in bar auch Geldwäsche erleichterten, war ein erhellender Punkt. Kartenzahlungen sind öfter transparenter, doch natürlich ist auch das Freiheitsargument gewichtig: Nicht jede Geld-Transaktion soll in den Augen mancher Kunden rückverfolgbar sein können.
Auch ging es in der Diskussion um allgemeine Auffälligkeiten, wie die unsachliche Abwertung des politischen Gegners, die zum Glück nicht zu den Handlungen von Bosbach gehört. Sein sachlicher Ton ist immer wieder auch mit humorigen Einlagen versehen, die eher auflockern als versteifen. So vermeidet man ein gereiztes Klima, das nicht weiterführend ist. Wer so wie Bosbach nicht mehr in Amt und Würden ist, kann auch sicherlich etwas gelassener auf die geleistete Arbeit und auf die sicher herausfordende Zukunft in der deutschen Bundespolitik und in der sächsischen Landespolitik schauen. Seine Bundestagsmandate hat er oft mit traumhaften Wahlergebnissen gewinnen können. Hier ist die Erfolg-Sicherheit im Hinblick auf die Vergangenheit spürbar: Erfolge dienen auch der Souveränität im politischen Handeln.
Was das Foto schön zeigt, bleibt die Monobloc-Bestuhlung genauso kultig wie der VW Bulli! Diese kultige Kombination wird mir ganz sicher in Erinnerung bleiben!
‚Erscheinungsbild’ ist ein wunderbares Wort, das meiner Großmutter noch wenige Monate vor ihrem Tod über die Lippen ging, als sie mich kaum noch erkannte. Uns erscheinen ja auch mentale Bilder, erst recht im Traum.
Zum Jahreswechsel 2022 / 2023 besuchte ich in der Städtischen Galerie Lüdenscheid eine Ausstellung mit dem schönen Titel „Ökonomie der Gestaltung“ zu Otls Aichers Werk, das sich nicht einfach in einem Museum präsentieren lässt. Es gab keine großen Grafiken oder Gemälde anzuschauen, vielmehr Logos, Piktogramme und auch Design-Formen. Viel gibt dies auf den ersten Blick nicht her, doch wenn man sich einen Kunstband aus dem Prestel-Verlag besorgt und dazu noch Aufsätze von einer hervorragenden Homepage zu Gemüte führt, dann wird klar, dass Otl Aicher (1922-1991) die Designgeschichte in Westdeutschland entscheidend mitgestaltet hat. Die Piktogramme zu den Olympischen Spielen in München 1972 und das ZDF-Erscheinungsbild von den frühen 1970er Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende stammen aus der Denk-Fabrik von Otl Aicher im schönen Allgäu, genauer gesagt aus dem Weiler Rotis, wo er auch die gleichnamige Schrift entwickelte. Akademisch wirkte Aicher an der Hochschule für Gestaltung in Ulm als deren Gründungsmitglied (u.a. zusammen mit seiner Ehefrau Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Sophie Scholl) von 1953 bis zur Auflösung der Hochschule 1968. Den aus den Vereinigten Staaten stammenden Begriff ‚Visuelle Kommunikation’ nutzte Aicher in Deutschland als einer der ersten, vielleicht sogar als allererster. Tragischerweise verstarb Aicher 1991 an den Folgen eines Unfalls, der sich auf der Straße nach Rotis am Rande seines Grundstücks ereignete.
Wenn sich Großveranstaltungen und ein Fernsehsender auf ein gewisses Erscheinungsbild einigen, dann ist der Umsetzungsprozess eindeutig vielschichtiger als nur die Entwicklung eines „Corporate Design“. Schließlich geht es ja um mehr als eine Bildmarke und eine einheitliche Schriftart. Zwei Gedanken dazu mögen erhellend sein. Sie zeigen, dass es hier wirklich auch um etwas Brauchbares geht.
Der eine Gedanke stammt von aus dem ersten Aufsatz im Prestel-Kunstband, verfasst vom Herausgeber Wilhelm Vossenkuhl:
„‚Welt entwerfen’ bedeutet, sich über das Zusammenspiel der vielen sperrigen Faktoren Gebrauchsfähigkeit, technische Perfektion und Innovation, ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Verwertbarkeit, anspruchsvolle und attraktive Form Gedanken zu machen und sie in einem Produkt auf den Punkt zu bringen. So wird jedes Produkt exemplarisch für ein Ganzes. Jedes so entworfene Exemplar wird zum Teil eines Ganzen, das es davor noch nicht gegeben hat. Das Ganze entsteht erst durch und im Entwerfen.“
Ich stelle mir den Gebrauchswert von Piktogrammen vor. Sie schaffen Ordnung und Übersicht gerade in einem vielsprachigen Umfeld. In einem Olympia-Ort fing diese Art der Bildersprache spätestens ab den Spielen in Tokio 1964 an, wie ich aus einem kurzen Video-Beitrag erfuhr, der sich nur mit der Geschichte des Olympia-Design befasst. Was viele Menschen aus der ganzen Welt richtig interpretieren sollen, muss gut durchdacht sein. Und da ein Piktogramm allein wenig Gebrauchswert hätte, müssen die Bildzeichen als Ganzes überzeugen, also nicht nur die dargestellten Sportarten, sondern auch der Verweis auf wichtige Dienstleistungen und Anlaufstellen. Näheres dazu hat der Designer Marc Holt für die bereits erwähnte Homepage geschrieben und zahlreiche aufschlussreiche Dokumente aufgeführt.
Ein weiterer zentraler Gedanke betrifft die Farbwahl: Aicher setzte bei seiner Arbeit für das ZDF auf ein „Farbklima“ anstatt auf ein „Farbprofil“, wie aus dem reich bebilderten Online-Artikel des Verlegers und Kommunikationsdesigners Jens Müller hervorgeht. Damit wird auch das breite Angebot an Sendungen gewürdigt. Standards gelten, doch nicht in strenger Einheitlichkeit, wie Müller schreibt:
Entsprechend wurde die Schrift mit ihren vier Schnitten zum zentralen Gestaltungselement der neuen Identität. Sie kam bei sämtlichen Bildschirmanwendungen zum Einsatz und fungierte gleichzeitig als prägende Displayschrift bei Drucksachen und Beschriftungen. Nahezu drei Jahrzehnte war sie im Einsatz und gehörte damit zu den ersten Beispielen von wirklich konsequent und medienübergreifend eingesetzter „Corporate Typography“.
Faszinierend, dass grafisch für die leicht abgerundete Mattscheibe und nicht für das Papier optimiert wurde. Subtil gab es also einen Zusammenhang zwischen der heute-Sendung und dem Aktuellen Sportstudio, auch wenn die Studiokulisse auf den ersten Blick eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten offenbarten. Und doch wird jedem treuen Fernsehzuschauer das Signet der beiden Sendungen geholfen haben, diese sofort zu identifizieren, unabhängig davon, wer gerade moderierte.
Otl Aicher hat also die Design-Geschichte in (West-)Deutschland geprägt. Nicht zu vergessen ist, dass er auch das Erscheinungsbild von Unternehmen (mit-)gestaltet hat, wie zum Beispiel der Lufthansa, deren Logo er mit dem Kreis rund um den Kranich entscheidend veränderte. Und das Sparkassen-S stammt auch von ihm! Im Online-Beitrag von Dagmar Rinker erfährt man zudem auch, dass Aicher dezidiert einen Artikel mit dem Titel „erscheinungsbild“ aus dem Sterbejahr 1991 verfasste. Rinker zitiert dessen Begriffsbestimmung: Der Schlüsselbegriff meine eine „form des vorstellungsbildes, seine konkretisierung in gebärden, verhalten, haltungen, profilen, linien, stilen, in farben und figuren, in handlungen und leistungen, in produkten und objekten.“
Ganzheitliches Denken heißt hier das Stichwort. An diesem Zitat wird indirekt deutlich, dass Aicher an philosophischen und moralischen Prinzipien während seines Schaffens sehr interessiert war. Kein Wunder also, dass Unternehmen und Philosophie wortschöpferisch zusammengefunden haben. Immer wenn ich Zukunft an Unternehmensphilosophie denke, wird mir Otl Aichers Schaffen über den Gedanken-Weg laufen!
Der erwähnte Aufsatz von Wilhelm Vossenkuhl heißt „Denken und Machen“; das Zitat steht auf der Seite 20 des Prestel-Kunstbandes mit dem Titel Otl Aicher. Designer. Typograf.Denker . Weitere sehr interessante Informationen zu Otl Aichers Biografie sind in einem Feature des Bayrischen Rundfunks enthalten. Herzlichen Dank auch an Frau Dr. Susanne Conzen, die die Aicher-Ausstellung in Lüdenscheid kuratierte und sie aufschlussreich mit dem Schaffen von Gerd Arntz (1900-1988) kombinierte, der schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine „piktogrammartige Figurensprache“ schuf.
Spionagethriller gibt es en masse, doch wie es sieht es filmisch im zwischenmenschlichen Abhör-Bereich aus? Man würde hier wohl von Psycho-Drama sprechen.
Zu DDR-Zeiten spionierte man mit ausgebufften Abhörmethoden, die der Oscar-prämierte Film Das Leben der anderen (2006) eindrucksvoll zeigt. Und im 21. Jahrhundert findet besonders dank offener digitaler Kanäle das Beschatten wohl mehr denn je statt. Neudeutsch spricht ja auch von Stalking. Wie das sich kammerspielartig darstellt, vermittelt der Film Nebenan, in dem Daniel Brühl zum ersten Mal als Regisseur hinter den Kulissen und als Hauptdarsteller vor der Kamera in Erscheinung tritt. Der gefeierte Schriftsteller Daniel Kehlmann verfasste das Drehbuch, das es in sich hat.
Brühl spielt in seinen Teilen sich selbst – einen Schauspieler namens Daniel, der seinem wichtigsten Gesprächspartner im Film, dem Nachbarn Bruno gegenüber überheblich und auf den ersten Blick desinteressiert auftritt. Handlungsort ist die Kneipe Zur Brust irgendwo im Prenzlauer Berg.
Bevor er zu einem Casting in Großbritannien aufbricht, möchte er sich noch kurz in jener Stammkneipe auf den Termin vorbereiten, doch er kommt aufgrund von Bruno nicht von diesem Ort los: Sein Nachbar, der ihm eigentlich zuvor in seiner Unscheinbarkeit über die Hinterhof-Distanz nichts bedeutete, führt ihm sein eigenes verruchtes Privatleben vor die Augen. Dabei ist Bruno alles andere als ein Spion, denn er muss sich größtenteils gar nicht bemühen, die Dialoge zwischen Daniel und seiner Partnerin Clara mitzuhören. Eine bizarre Wissensasymmetrie wird offenbar: Während Daniel nichts über Brunos Leben vorher wusste, kann Bruno genaustens über Daniels Filmschaffen und über seine Machenschaften Auskunft geben.
Was mich an dem Film (erst im Nachhinein) begeistert, ist das Ausloten von Nähe und Distanz. Nachbarschaft erlaubt einerseits das Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen, ohne dass sich das Gefühl der Freundschaft oder der Sympathie einstellt. Peter Kurth spielt diese ambivalente Figur äußerst gekonnt. Mehrheitlich fokussieren sich die Dialoge auf die Problematik zweier ganz verschiedener Lebenssituationen, die sich im Schlagwort ‚Gentrifizierung’ (der Begriff fällt auch im Film) widerspiegeln. Der erfolgsverwöhnte und abgehobene Schauspieler auf der einen Seite aus dem Westen der Republik, auf der anderen Seite der ausgebildete Programmierer als Call-Center-Agent, der in einem „Help Center“ arbeitet, zu DDR-Seiten in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde, und dessen Vater vor der Jahrtausendwende aus der Altbauwohnung von einem Spekulanten für billiges Geld „herausgekauft“ wurde, bevor man sie in eine schicke Maisonette-Wohnung umbaute, in die sich Daniel einquartieren sollte. Das Psycho-Drama wird stellenweise zum Sozialdrama, en miniature auch zum Nachbarschaftsdrama.
Bruno kann dank seines Berufs die Kontobewegungen von Daniels Partnerin Clara bestens durchleuchten und kann von ihren Seitensprüngen berichten. Dabei schwirrt im Film eine Fliege zuerst auf Brunos Stirn und dann auf den mitgebrachten Kontoauszug; sogleich wird sie von Daniel gekillt. Auf dem zahlenlastigen Dokument hinterlässt diese Todes-Spur etwas Morbides; gleichsam wie die Auflistung der Umsätze, die eigentlich nur pralles Leben vorspiegeln:
Fliege mitten auf der durchleuchteten Rechnung – Aus dem Film Nebenan (Regie: Daniel Brühl), 54min27sek
Insgesamt wirken die Kneipen-Gäste einsam, was die folgende Einstellung eindrucksvoll zeigt:
Solitäre in der Kneipe “Zur Brust” – Aus dem Film Nebenan – Regie: Daniel Brühl, 1h08min22sek
Die weiten Abstände zwischen den Akteuren erinnert an die Pandemiezeit, in der der Film entstand, ohne dass davon die Rede wäre. Jegliches Handeln scheint für wenige Sekunden stillzustehen.
Neben den Kontoauszügen bekam Bruno dank eines Blumengieß-Jobs Zutritt zu Daniels Wohnung und damit zu dessen I-Pad, auf dem er dessen schmutzige Online-Techtelmechtel mit einer gewisse Denise nachlesen kann. Das I-Pad als enthüllendes Speichermedium gibt er dann im verschlossenen Umschlag in der Kneipe über einen Kinder-Boten, der ein Fan von Daniel ist und als Verwandter der Kneipenbesitzerin den Handlungsort aufsucht, gegen geldwerte Belohnung an Klara weiter. Auch hier kann man von einem schmutzigen Geschäft sprechen.
So spielt der Schauspieler Daniel in seinem Privatleben gleichzeitig eine Täter- und eine Opferrolle, die man auch Bruno zuschreiben könnte. Sein Agieren als Beschaffer von indiskreten Informationen ist überdies zweideutig, da er ja trotz seiner kriminellen Energie Licht ins Dunkel bringt und Lebenslügen im wahrsten Sinne des Wortes auftischt. Dabei verheimlicht er nicht, dass auch er Opfer eines Betrugsfalls geworden ist (nämlich von seiner Frau).
Am Filmende erfahren wir als Schlusspointe, dass Daniel mit seiner Familie nicht mehr in der schicken Maisonette-Wohnung lebt. Stattdessen ist es eine Schauspielerin: Brunos Vorhang öffnet sich nun in eine neue Wohn-Welt:
Brunos Sicht-Fenster – Aus dem Film Nebenan – Regie: Daniel Brühl, 1h26min40sek.
Der Film konzentriert sich auf die Macht der Sprache, die über ausschweifend geführten Dialoge an einem Handlungsort Lug und Betrug enthüllt und dabei verborgene Lebenswelten aufdeckt. Zusammen mit der subtilen Zusammenführung deutsch-deutscher Lebensgeschichten ist dieses Kammerspiel mitten in Berlin ein ganz wichtiges Zeit-Zeugnis gut zwei Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende.
Ein Interview mit Daniel Brühl bietet Wissenswertes zur Filmidee. Eine ausführliche Kritik findet sich bei in der Online-Zeitschrift epd film. Der Film kann hier über verschiedene Anbieter heruntergeladen werden. Noch ein wichtiges Detail: 2022 wurde die Theaterfassung am Wiener Burgtheater uraufgeführt.
Paris kann warten (engl.: Paris can wait) ist ein zweitklassiger Film, auch wenn in der Süddeutschen Zeitung Rainer Gansera in seiner Besprechung zurecht von einem zauberhaften Road-Trip“ und einer „Feier des Lebens“ spricht. Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, dass Anne, die Frau des Produzenten Michael mit dessen Geschäftspartner Jacques die französische Provinz erkundet – und erst ganz zum Schluss in Paris eintrifft, wo sie sich entscheidend näherkommen. Daher rührt der Titel. In dieser Reise-Zeit weilt der Ehemann weit ab in Budapest, wo er dringend gebraucht wird.
Eleanor Coppola, die 2024 verstorbene Ehefrau des berühmten Regisseurs Francis Ford Coppola, bietet in ihrem ersten Spielfilm (Debüt mit über 80!) mit dem Schauspieler Alec Baldwin (Michael) mindestens einen Hochkaräter auf, doch der glänzt im Film ja eher durch Abwesenheit. Die anderen beiden Hauptdarsteller (Diane Lane und Arnaud Viard) spielen ihre konventionellen Rollen ohne Glanz – sie blieben für mich also eher blass. Die gezeigten Orte sprechen für sich; dabei sind die Dialoge eher Beiwerk. Laut einem Spiegel-Artikel hatte Coppola eine ähnliche Route einmal selbst zurückgelegt.
Zwei Szenen bleiben für mich in Erinnerung. Einmal die Vorführung des legendären Bergmassivs Sainte-Victoire bei Aix-en-Provence, die mehr ist als eine Vermittlung zwischen einer Amerikanerin und einem Europäer: Der Dialog könnte genausogut zwischen Reiseführer und Touristen entstehen:
-Oh, you see that mountain over there? It’s Sainte-Victoire.
– A-ha. (…)
– It’s a major landmark of this region and a favorite subject for many writers and artists. Cézanne captured it perfectly. I saw a beautiful exhibition of his work last year in Aix-en-Provence.
-Oh, that’s great.
-Yeah.
-It must have been incredible to see Cézannes paintings here in this light. Yeah. Ha. The ones that I know at the MET in New York, they look a little sad, you know, as if they don’t really want to be there.
Was den Dialog besonders macht, ist die Verknüpfung von sprachlichem Inhalt und realen Ansichten sowie der gemalten Sicht, die auch den Filmzuschauern die Besonderheit des Abgleichens ermöglicht. Auf der Autofahrt wird erst die relativ unspektakuläre, nicht von Cézanne auf Leinwand gebannte Sicht von Osten auf die Sainte-Victoire gezeigt. 20 Sekunden später folgt jenes berühmte Gemälde von Paul Cézanne, die das Motiv von Südwesten her in Szene setzt (La Montagne Sainte-Victoire, 1887, Standort: The Courtauld Gallery in London), bevor weitere 20 Sekunden später die reale Perspektive, die dem Gemälde zugrunde liegt, aus dem Auto heraus gefilmt wird:
Blick auf das Sainte-Victoire-Gebirge im Film Paris kann warten (2016), 13min38sek.Einblendung des Gemäldes La Montagne Sainte-Victoire (1887) von Paul Cézanne, 13min57sek.Das reale Sainte-Victoire-Gebirge aus dem Auto in Paris kann warten gesehen, 14min17sek.
Sprachlich noch interessanter ist die Wahl der Speisekarte, die zum Abendessen nach dem ersten Reisetag gereicht wird:
Speisekarte von Les Jardins d’Epicure im Film Paris kann warten, 23min2sek.
Es kann kein Zufall sein, dass dieses Dokument nicht aussschließlich französische Wörter bereithält. Die Sprache der Kulinarik, ganz ohne Angabe von Preisen, so soll recht eindrucksvoll vermittelt werden, ist eben mehrsprachig: „pickles de carottes” kombiniert Französisch und Englisch, „à la plancha” für eine spezielle Grill-Auflage kombiniert Französisch und Spanisch und „à la caponata” (sizilianisches Gericht mit Auberginen) sowie „risotto léger” kombiniert Französisch und Italienisch. Es wäre wirklich interessant, den Autoren dieser Speisekarte zu ermitteln. Es ist schade, dass sie im Film nur etwa zwei Sekunden eingeblendet wird und auch im Gespräch mit der Bedienung nur von „agneau de lait avec mini-carottes et mini-oignons“ bzw. „veau de lait“ die Rede ist, die in der Speisekarte nicht (sichtbar) auftauchen. In der Synchronfassung wird der auf Französische gehaltene Dialog zwischen Jacques und dem Kellner übrigens nicht übersetzt, ebenso wenig wie in der englischen Originalfassung. Nur wird kurz vor dem Dialog der „Milchlammbraten“ erwähnt, für den der Küchenchef bekannt sei. Jacques bestellt schließlich für zwei eine „dorade royale” als Vorspeise sowie das Lamm- und das Kalbsgericht („carré d’agneau“ et „côte de veau“), dazu einen Wein aus dem Örtchen Condrieu, einen aus dem Weinbaugebiet Côte-Rôtie sowie einen Hermitage vom Weingut Jean Michel, die allesamt aus dem Rhône-Tal stammen.
Im Abspann wird das Hotel Belles rives in Juan-les-Pins bei Antibes als realer Handlungsort dieses Abendessens erwähnt. Warum im Film der Name Les Jardins d’Epicure aufwartet, der mitten in der Provinz (im Weiler Bray et Lû) nordwestlich von Paris lokalisierbar ist, wäre auch eine interessante Frage. Denn dorthin konnte die Route bei bestem Willen nicht hinführen – dann wäre das Duett über wahrlich über das Reiseziel Paris hinausgeschossen. So wird hier ein realer Restaurant-Ort mit einem realen Restaurant-Namen extra für diesen Film kombiniert.
Anschließend folgt ein Dialog zur Blumendekoration im Restaurant, den Anne eröffnet:
-Why do the flowers smell so much better in France than they do in the U.S.?
-Because we are in France. In America they look lovely but they smell like a refrigerator.
-It’s true. I love roses.
-But their scent mustn’t intrude on the aroma of the wine.
Diesen Dialog kann man eigentlich nur ein US-Amerikaner lustig finden, oder eben einfach nur danaben. Wie soll man sich einen Kühlschrank-Geruch vorstellen? Immerhin geht es ja in erster Linie um die Schönheit der Rose, die nicht automatisch mit dem Duft gekoppelt wird. Wird hier etwa auf die Herkunft der Rosen (Garten vs. Treibhaus) abgezielt?
Offensichtlich wird, dass ein zu starker Rosen-Duft eben nicht zu einem guten Wein passt. Die Wein-Nase möchte nämlich gerne ohne olfaktorische Ablenkung bleiben….Worauf es hier ankommt, ist einfach der gute Tropfen, der eben besonders in Frankreich gerne zelebriert wird: Jacques bestellt ohne Abstimmung mit seiner Gefährtin gleich drei verschiedene Weine.
Ohne Käseauswahl und ohne schokoladiges Dessert ist das Menü natürlich nicht komplett:
Riesige Käseauswahl, nur für Anne und Jacques, im Film Paris kann warten – 30min42sek.
Jacques betont, dass der Käse aus Rohmilch („unpasteurized milk“) hergestellt und sehr gesund und „alive“ sei, während der US-amerikanische Käse aus pasteurisierten Milch tot sei und im Magen wie ein Fettkloß („ball of fat“) landen würde. Er bejaht Annes Frage, ob deswegen Franzosen nicht zulegen würden, woraufhin Jacques sie ebenso als „more romantic“ charakterisiert. Der Gesprächsstoff in diesem interkontinentalen Setting kommt eben ohne Polemik nicht aus; und wer weiß, wie viel Wahrheitswert in dieser verbalen Schwarz-Weiß-Malerei steckt….
Im Film werden passend zu den jeweiligen Sequenzen zudem die Gemälde Le Déjeuner sur L’Herbe (1883) von Edouard Manet und Danse à Bougival (1883) von Pierre -Auguste Renoir eingeblendet. Hier war die Regisseurin ziemlich kulturbeflissen!
Im Film fiel mir außerdem auf, dass die gezeigten Orte (zumindest partiell) nicht den tatsächlichen Verlauf einer (möglichen) Reiseroute beachten. Der Stopp am Aquädukt Pont-du-Gard, das nach dem Vorbeifahren an der Sainte-Victoire gezeigt wird, entspräche einer Route, doch dass direkt im Anschluss der Zuschauer den Peugeot-Oldtimer in einer Allée in Le Tholonet (bei Aix-en-Provence) vorbeifahren sieht, kann nur der schönen Kulisse geschuldet sein, die ich 10 Monate lang 2006-2007 genießen durfte. Sonst wäre mir diese Allee überhaupt nicht aufgefallen.
Noch kurz zu weiteren ungewöhnlichen Kultur-Orten im Film: Anne wird durch das schöne Musée des Frères Lumières in Lyon geführt, so dass auch über die Anfänge der Filmgeschichte berichtet wird. Das bunte Markttreiben wird in Lyon ebenso eingefangen wie ein Besuch in einem Lyoner Traditionsrestaurant (einem bouchon) und im Textilmuseum (Musée des Tissus et des Arts Décoratifs). Dort wird Anne beim unerlaubten Fotografien erwischt, woraufhin Jacques dem Sicherheitspersonal ein paar Geldscheine zusteckt, um den Ärger schnell im Keim zu ersticken. Auf einem weiteren Stopp wird im Kerzenschein die Kathedrale in Vézelay im Burgund (Jacques erinnert an Richard Löwenherz’ Startpunkt für seinen Kreuzzug im Jahre 1190) als Besichtigungsort inszeniert. Ein besonderer Kamera-Blick liegt auf den kunstvoll gestalteten Säulen. Die meditative Ruhe, während der Anne über ihr verlorenes Kind spricht, gehört zu den gelungensten Momenten im Film. Insofern lohnt sich der Streifen von der ersten bis zur letzten Minute. Ich bin froh, das er mit über den Weg gelaufen ist; denn so konnte ich Frankreich auf der Grundlage von Erfahrungen wieder mit Hilfe einer ausgeklügelten Bildregie neu entdecken.
Die zitierten Dialoge kommen im Film zwischen 13min38sek und 14min16 sek sowie zwischen 26mi55sek und 27min10sek vor. U.a. bei jpc kann der Film erworben werden.
Im September 2012 wurde ich am Bahnhof Kinding rechtens aus einem Regionalexpress geworfen. Der Grund war ganz simpel: Es fehlte der Fahrradwagen, so dass mein Drahtesel im Wege stand und damit der Sicherheit an Bord nicht zuträglich war. Mein Ticket (Fahrradtransfer inklusive) half hier auch nicht weiter. Pech gehabt! Der schnellste RE Deutschlands, auf einer ICE-Schnellstrecke unterwegs, erwies sich an diesem Tag als vollkommen unbrauchbar für mich! Mein Ziel Ingolstadt habe ich schließlich ohne Probleme erreicht: Wie gut, dass wie gerufen am Bahnhof eine gut 80-jährige Frau mit ihrem Kleinwagen stand und mich sehr freundlich das Altmühltal hoch bis nach Denkendorf mitnahm. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Ziel. Eine wirklich ganz besondere und daher auch unvergessliche Hilfestellung, gerade mit meinem Fahrrad, der den Kofferraum und die Rückbank gut ausfüllte.
Mitte Mai diesen Jahres musste ich wieder an diese Begebenheit denken, als ich einen Artikel in der Freien Presse las (Zwickauer Ausgabe vom 14. Mai 2024), in dem „fünf typische Szenarien beim Reisen mit Fahrrad“ aufgeführt waren, die din unserem Alltag allesamt realistisch sind. Ob es dann noch „Szenarien“ sind, die ja vom Begriff her auf eine schwer vorherbare Zukunft verweisen sollten?? Jedenfalls ist in der Folge die Rede von Szenen, was besser klingt.
Eine fehlende Anstellmöglichkeit für Fahrräder wurde nicht erwähnt, weil die meisten Regionalbahnen heute über eine recht begrenzte Anzahl von Fahrradstellplätzen im Großraumbereich am Zuganfang oder am Zugende verfügen. Szene 3 und Szene 4 passen jedoch gut in die Kategorie Kapazitätsmangel. Die Autorin Hanna Gersmann gab sich Mühe, diese auch möglichst lebendig zu formulieren:
Ein schöner sommerlicher Sonntag, warum nicht einen Ausflug ins Grüne unternehmen? Das dachten sich viele, nun stehen Menschen ratlos vor dem Zug. Alle Abstellplätze für Räder sind bereits belegt.
Hier haben wir die passive, langweiligere Variante, wenn es um die nicht vorhandene „Mitnahmegarantie“ geht. Deutlich spannender ist die 4. Szene, die aber im Grund auf das gleiche Phänomen hinausläuft: „‚Los, jetzt lassen Sie mich doch rein, das passt doch noch’: Jemand fängt an zu drängeln und zu schieben“.
Während die Szene 3 besonders die Reservierungspflicht für Fahrräder in Fernzügen thematisiert, die nicht online möglich ist, geht die Szene 4 auf die teilweise ausgewiesene „Maximalanzahl mitzunehmender Räder“ ein- Dass David Koßmann als Experte vom Branchennetzwerk Pressedienst Fahrrad zitiert wird, zeigt, dass man auch hier Tipps gut gebraucht kann. Koßmann verweist in Szene 3 auf „Übersichtsseiten, welche Züge an welchen Wochentagen als überlastet gelten“. In Szene 4 rät er, zum Platzsparen „Fahrräder möglichst eng, versetzt oder mit entgegengesetzten Lenkern abzustellen“.
Es gibt in meinen Augen zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema: Entweder man probiert den Radtransport gar nicht erst aus, weil einfach nicht zu viel Unwägbarkeiten drohen; oder man nimmt sein Rad einfach mit, in der Annahme, dass die Mitnahme meist problemlos möglich ist. Nach meiner Erfahrung ist das auch so. Natürlich kann es manchmal hektisch werden (vgl. Szene 1), wenn das Radabteil nicht dort ist, wo man es erwartet, zum Beispiel am vorderen Ende des Zuges. Es handelt sich hierbei allerdings nur um ein paar Sekunden, die erhöhte Aufmerksamkeit erfordern. Leider ist die Regelung bei Zusatztickets für Fahrräder sehr uneinheitlich geregelt (vgl. Szene 2). Es hängt vom Verkehrsverbund und teilweise auch vom Eisenbahnunternehmen ab, ob Räder gratis mitgenommen werden können: Während beispielsweise die Mitteldeutsche Regiobahn (MRB) innerhalb eines Verkehrsverbundes Räder kostenlos befördert, ist das bei der S-Bahn Mitteldeutschland nicht der Fall. Und dass Tandems oder Liegeräder nicht genommen werden dürfen (vgl. Szene 5), ist nicht überraschend. Wie so oft ist das Kleingedruckte hier alles andere als unwichtig.
Seit den frühen 2000er Jahren hatte ich kaum Probleme mit dem Radtransport im Bahnsystem. Der geschilderte Zwischenfall blieb bisher einmalig. Erfahrungswerte sind oftmals buchstäblich wertvoller als Empfehlungen , die nur im Optimalfall wirklich helfen, selbst wenn sie gut gemeint sind. Unwägbarkeiten gehören einfach dazu. Und manchmal hilft einfach der gesunder Menschenverstand: Wenn mal ein Engpass vorliegen sollte, dann wird sich auch daraus wieder eine neue Erfahrung herausgeschält haben, die in eine erzählreife Szene passen könnte. Im Zweifelfall sollte der Lebensoptimismus die Oberhand behalten!
In der Chemnitzer Ausgabe der Freien Presse erschien der Artikel bereits am 11.05.24 (Seite 24).
Das Sächsische Mozartfest bietet keinesfalls nur einen Fokus auf die Wiener Klassik, also auf das späte 18. Jahrhundert. Es wagt auch einen Blick über den ästhetischen Tellerrand hinaus. Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass der Jazzkomponist Stephan König nicht nur auf diesem Fest musizieren, sondern auch den Mozartpreis 2024 von der Sächsischen Mozart-Gesellschaft) bekommen würde.
Stephan König ist wohl nur eingeweihten Jazzenthusiasten ein Begriff. Als ich 2021 in einem großen Leipziger Notenladen unweit des Gewandhauses den Band 12 Préludes. Jazzinspirierte Klangbilder entdeckte, war mir bewusst, dass sie für mich, der ich in meinen Jugendjahren kaum mit dem Jazz in Berührung kam, eine große Herausforderung bieten würden. Ohne meinen Lehrer Thomas Unger am Zwickauer Robert-Schumann-Konservatorium eine allzu schwere Hürde. Die Stücke sind durch eine ungeheure Klangvielfalt gekennzeichnet; zumindest klingen einzelne Takte immer wieder anders, je nach eigener Stimmung. Sie zeigen Königs Anspruch, Komposition und Improvisation miteinander zu verbinden, ebenso wie verschiedene Genres der Klaviermusik. Um puristischen Jazz handelt es sich also nicht.
Ein Klaviergespräch wie Anfang Mai verbindet Musik und eine gewisse Neugier auf Hintergrundinformationen über eine Komposition bzw. einen Komponisten. Die Halle der Villa Esche, am Rande des Chemnitzer Stadtzentrums, 1903 für den Textilunternehmer Rudolf Esche fertiggestellt und nach mehrjähriger Renovierung um die Jahrtausendwende als Veranstaltungs- und Tagungsort konzipiert, eignet sich hervorragend für ein solches Gespräch, das eine Ausprägung von Salonkultur ist. Gut möglich, dass der Architekt Henry van de Velde auch schon an diese Möglichkeit gedacht hatte. Weniger intim als in einem beengten Wohnzimmerkonzert können die Klänge sich leicht in die oberen Etagen verflüchtigen. Für Gesang und Instrumentalmusik ergeben sich hier sicher besondere akustische Phänomene.
Die MDR-Radiomoderatorin Julia Hemmerling leitete souverän und unterhaltsam das Gespräch. Die Fragen führten angenehm in ein Universum hinein, das eigentlich nicht in Worte zu fassen ist. Die Stimmung ist, wie wir wissen, vom Gebäude abhängig, und damit auch die Harmoniefolge: Die Villa-Esche sei für den A-Dur-Dreiklang prädestiniert, wenn man König Glauben schenkt. Faszinierend. Der Laie kann hier keine Erklärung verlangen, genauso wenig wie bei Farbstimmungen. Es gelten hier nicht die Gesetze der Logik, sondern allein die Gefühle, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind.
Man kann jedoch das Ephemere der Musik begreifen, denn genauso schnell wie sie entsteht, verschwindet sie auch. Im Moment des Klangs gebe es laut König eine Spannung, die auch den „Aspekt des Loslassens“ impliziert, also eine Entspannung.
Im zweiten Gesprächsteil erzählte Stephan König von seinem Studium an der Leipziger Hochschule für Musik, wo er laut Homepage als „Diplom-Dirigent, Diplom-Pianist und Diplom-Komponist“ abschloss, und von seinem Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee kurz vor und während der Wendezeit. Widerstände gegen seine Art des Musizierens spürte er während des Studiums, gerade weil er an der Hochschule öfters statt der vorgesehenen Stücke improvisierte. Gerettet habe ihn in der Kaserne der Zugang zu einem Klavier in einem Dachzimmer, wohin er sich nachts geschlichen habe.
In seinen Improvisationen baute er an dem Abend jeweils einen der drei Sätze des 23. Klavierkonzerts (in A-Dur) von W.A. Mozart ein. Ein kühnes Unterfangen, das mich an das Schumannfest 2023 erinnerte, auf dem Johanna Summer während ihres Solo-Konzerts Kompositionen von Robert Schumann in ihr Werk einflochte.
Im Programmheft ist die Rede davon, dass Stephan Königs Klangwelten einen „Perspektivwechsel des Hörens, somit des Denkens und Empfindens“ ermöglicht. Im Moment des Live-Erlebnisses wird diese eher plakative Formulierung plastisch. Sicherlich werde ich im Laufe des Jahres einen weiteren Ort mit neuen König-Momenten aufsuchen. Und dann werde ich auch wieder anders hören, denken und empfinden. Und womöglich etwas besser improvisieren können….
Es war der 20. Juni 2018, als ich in Schlettau im Erzgebirge auf dem allerletzten Meter gegen ein Regendach prallte. Und dann noch mit einem geliehenen Kastenwagen, der für den zu transportierenden Inhalt, ein Korbsofa sowie ein Korbstuhl mitsamt einem kleinen runden Korbtisch (und einer Glasplatte als Auflage) viel zu groß geraten war. Der Schaden war größer als der Kaufwert, so dass meine Laune an jenem Tag trotz der hochwertigen, gebrauchten Möbel bescheiden war. In Anbetracht der Kostenbeteiligung wurde ich durch mein nervöses Auftreten gegenüber den Privatverkäufern als Fremdling gehalten, zumindest nicht als deutscher Staatsbürger. Erst der Schaden am Fahrzeug, dann die Zitterpartie, als sich die Frage stellte, ob das Korbsofa über einen Flaschenzug heil aus dem dritten Stock nach unten befördert werden würde. Hochspannung pur! In dem Augenblick bewunderte ich das ältere Ehepaar für ihr Vermögen, eine so eine waghalsige Transportanlage aus dem Stand einzurichten. Und dann wähnte ich mich noch unsicher, ob das Sofa auch noch durch meine Wohnungstür passen würde. Es passte zum Glück!
Korbsofa-Seilzug im Juni 2018 in Schlettau
Fast sechs Jahre bereicherte mein Zwickauer Wohnzimmer diese Möbelkombination, bevor ich sie letzten Februar wegen eines neuerlichen Umzugs nach Chemnitz aus den Händen gab. Auch dieses Mal war das Heraushieven aus der Wohnung kein Kinderspiel (wie zu erwarten war!), doch lief die Verladung auf einen Pritschenwagen umso einfacher. Der kurze Frischlufttransfer zum Haus Abendfrieden, einem Seniorenheim der Diakonie in Werdau, war wiederum etwas Besonderes. Schließlich – und das ist mich die schönste Entdeckung – ist der neue und vielleicht letzte Standort dieses Möbel-Trios eine Café-Ecke, in der räumlich und farblich kaum andere Sitzobjekte stimmiger sein könnten.
Seit Februar 2024 steht das Korbmobiliar im Haus Abendfrieden in Werdau
Ende April traf ich mich mit der Einrichtungsleiterin Dorothea Floß. Sie zeigte mir die weiträumige Anlage, in der viele Orte zum Verweilen einladen. Das nasskalte Wetter war wie geschaffen, anschließend drinnen in der besagten Café-Ecke bei einem Kaffee ein ausführliches Gespräch zu führen, um den Ort zu würdigen. Genau das ist ja der Zweck der Korbmöbel. Sie eignen sich nicht besonders gut zum Fernsehen und auch nicht zum Schlafen. Sie dienen der Unterhaltung und füllen erst dann ihre Funktion optimal aus, wenn mindestens zwei Personen am Korbtisch Platz nehmen. Ohne den Stuhl wäre der Raum weniger schön ausgefüllt, doch gerade weil ein Runder Tisch eben Sitzmöbel auf der gegenüberliegenden Seite wünschenswert erscheinen lässt. Diese Geschmackssache ist natürlich wiederum raumabhängig….
Wenn so viel in unserer Zeit über Nachhaltigkeit gesprochen wird, dann jedoch weniger zur sozialen Komponente. Mir scheint, dass das Korbmobiliar genau diese Komponente berücksichtigt: Der geldlose Transfer sorgt für keinen ökonomischen Mehrwert, wohl aber für eine Wertsteigerung im sozialen Bereich. Sitzmobiliar ist nur dann sinnvoll, wenn es nicht nur Raumfüller sind. Ich habe den wunderbaren Eindruck gewonnen, dass nicht nur ästhetisch der Ort zum Objekt passt, sondern auch sozial: Wenn angeblich diesen Möbelstücken ein Urlaubsgefühl und gleichzeitig ein Zuhause-Gefühl anheimgestellt wird, wie Frau Floß zu berichten wusste, dann erfüllen sie Raum und Zweck vollkommen!
Vielen Dank an Michaela Rusch für den Tipp, die Diakonie Westsachsen wegen des Mobiliars zu kontaktieren, und natürlich für Dorothea Floß für die Führung über das Diakonie-Gelände und das tiefsinnige Gespräch am neuen Möbel-Standort. Es wird in guter Erinnerung bleiben!
Waldwege können Künstler und nicht nur Wanderer herausfordern. Das beste Beispiel dafür ist das Gemälde „Waldweg“ (1874 – 1877) von Pierre-Auguste Renoir, das ich im Januar 2023 im Potsdamer Barberini-Museum länger betrachtete. Es lässt sich über den angegebenen Link auch mit der Lupenfunktion (über das Plus-Zeichen) in sehr guter Auflösung betrachten. Auf der Museums-Homepage liest man über das Werk Folgendes:
Wie in vielen Gemälden der Impressionisten gewährt auch hier der Waldweg nicht nur räumlichen Eintritt in die Komposition. Vielmehr lädt er auch sinnbildlich zur Kontemplation eines Sommertags in freier Natur ein. Die in die Landschaft eingebettete Gestalt des jungen Spaziergängers dient als metaphorische Identifikationsfigur für den Betrachter – ein typisches Vorgehen für die Impressionisten, die in ihren Landschaftsdarstellungen stets auf eine sinnlich-körperliche Rezeption abzielten.
Wie sicher das Betrachterauge doch den Weg und den Spaziergänger inmitten der Natur findet. Die Blickachse ist identisch mit der Wegachse, die senkrecht verläuft, so wie wir auch in der Natur Wege ausmachen. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Waldszene, die ich in der Nähe von Glauchau im November 2022 aufnahm:
Waldweg bei Glauchau, im November 2022
Auch hier weiß man recht schnell, wo es lang geht, wenngleich der Weg durch Laub und einem Hauch von Schnee schwerer als sonst auszumachen ist. Statt einem sommerlichen Lichteinfall scheint sich die dezente Herbstsonne hinter den Bäumen zu verstecken. Und doch ist hier eine Magie des Lichts spürbar.
Die vom Barberini-Museum zur Verfügung gestellte Bildbesprechung spricht von der „Auflösung der Formen“ bei Renoir, die für den Impressionismus typisch ist. Das Eintauchen in den Wald wird umso einfacher: Man kann als Betrachter gar nicht erst auf die Idee kommen, die Elemente des Walds isoliert zu betrachten. Das Verschmelzen der Farben gleicht einem Sinnesrausch, so dass die Betrachtung genauso sinnlich wirken kann wie ein leibhaftig erlebter Waldweg.
Auf meinem Glauchauer Waldspaziergang begeisterte mich die Verschmelzung von Herbst und Winter. Auf dem Foto lässt sich schön erkennen, dass das Noch-Grün mancher Bäume im Kontrast zum Bereits-Weiß des von Laub bedeckten Waldbodens steht. Es ist also kein typisches jahreszeitliches Bild.
Jeder Weg ließe sich einem bestimmten Typus zuordnen. Als Kind legte ich bereits großen Wert darauf, einen Schleichweg und eben keinen breiten Forstweg zu nehmen. Renoirs Gemälde hätte auch weniger Reiz, wäre der Waldweg allzu breit. Wenn ich im Berliner Raum den merkwürdigen Straßennamen Gestell lese, dann denke ich an eine monotone Wegeform, die Forstzwecken diente. Schnurgerade natürlich, mit 90-Grad-Wegekreuzungen. Die Schneise namens Adlergestell ist im deutsch-deutschen Grenzverkehr wohl vom und zum DDR-Flughafen Berlin-Schönefeld von größerer Bedeutung gewesen, glaubt man der Berliner Morgenpost. In Preußen diente der Adler überdies als Orientierungszeichen, speziell für den König Friedrich Wilhelm I, als er südostwärts zu seinem Jagdschloss in Königs Wusterhausen mit seiner Entourage ritt.
Im Zeitalter digitaler Navigationsmöglichkeiten verfahren sich die Wenigsten, die sich leiten lassen wollen. Auch Wander-Apps verhindern meist zuverlässig das Verlaufen. Poetisch heißt es in Leona Stahlmanns Roman Diese ganzen belanglosen Wunder: „Sich einen Weg machen. Wege sind ein gegenseitiger Gewöhnungseffekt. Man selbst gewöhnt sich an eine Landschaft; und die Landschaft gewöhnt sich an den, der durch sie hindurchgeht.“ Denkt man an gestaltete Orte und Räume, dann prägt der Vorüberziehende die Umgebung. So wie bei Renoir Landschaft mitsamt dem Weg und den Wandernden verfließt, so sind Wege als Spuren letztlich die Spuren, die wir hinterlassen. Digitale Spuren lassen sich gut verfolgen, analoge Spuren nicht. Umso wichtiger, sich zu vergegenwärtigen, dass jeder Weg auch ein Teil der Landschaft ist und diese nur so überhaupt erschlossen werden kann. Je mehr Wege, desto mehr Perspektiven!
Es kommt nicht häufig vor, dass im Deutschen Bundestag ein Wort verwendet wird, das aufgrund seines dialektalen Charakters einer Übersetzung bedarf. Ende November 2023 war dies der Fall: Der FDP-Abgeordnete Stephan Seiter brachte eine schwäbische Kostprobe in den Berliner Plenarsaal ein. Im Kontext einer eher drögen Debatte zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes wirkte diese inklusive der Übersetzung so überraschend platziert, dass ich als Zuschauer aufhorchte und sogleich ins Protokoll schaute. Darin ist folgendes festgehalten:
Genau das ist der Punkt, an dem wir ansetzen müssen, und darüber müssen wir diskutieren. Es ist doch besser, wir diskutieren darüber – auf Schwäbisch gesagt; das muss ich jetzt einfach sagen – a Muggaseggele länger, also ein klein wenig länger, als im Nachhinein wieder Flickschusterei betreiben zu müssen. Denn das hat das Wissenschaftszeitvertragsgesetz in der Vergangenheit schon erfahren, und das hat den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nichts genutzt. Deswegen nehmen wir uns diese Zeit. Wir klären diese Punkte.
Laut einem schwäbischstämmigen Freund bedeutet ‚muggaseggele’ eine „Kleinigkeit“ bzw. eine „Petitesse“. Nach dem Protokoll zu urteilen kann man es auch adverbiell für eine Präzisierung eines weiteren Adverbs, in diesem Fall „länger“ verwenden.
Klare Sache: Außerhalb von Schwaben wird man das Wort kaum kennen können: Drei von mir befragte Gesprächsteilnehmer aus meiner Familie konnten damit nichts anfangen, doch der Klang des Wortes kann nur erheiternd wirken!
Laut der Duden-Redaktion ist das Wort muggaseggele als ‚Schwabens kleinste Einheit’ im Gebrauch und soll im Duden Aufnahme finden! Dabei erfährt der Leser Folgendes: „Das Muggaseggele bezieht sich auf das Geschlechtsorgan der männlichen Stubenfliege, die im schwäbischen Dialekt als Mugg bezeichnet wird.“
Schließlich fand ich bei einer kurzen Internet-Recherche heraus, dass die Firma Explorer Coffee GmbH edlen Kaffee unter der wohlklingenden Bezeichnung muggaseggele Perlbohne vermarktet. Da konnte ich nicht widerstehen und bestellte online. Ich bin schon sehr auf das Geschmackserlebnis gespannt!
Gut möglich, dass ich als Nicht-Schwabe bei diesem Produkt ein Ausreißer-Kunde bin, der bewusst aus Spaß an der Produktbezeichnung zugeschlagen hat. Und dann auch noch die anschließende Bezeichnung Perlbohnen…Ein Tchibo-Wiki klärt über deren Besonderheiten auf: Mild im Geschmack, rundlich in der Form, so könnte man sie kurz umreißen.
Prof. Dr. Stephan Seiter, der übrigens eine VWL-Professur an der European Business School in Reutlingen innehat, bescherte mir jedenfalls mit der Dialektperle eine Freude. Es sei erwähnt, dass sein Redebeitrag sehr sachlich und ausgewogen formuliert ist. Die Abwägung bei befristeten akademischen Tätigkeiten besteht allgemein darin, dass einerseits genügend Qualifikationsmöglichkeiten für Wissenschaftler, andererseits auch eine überdurchschnittliche Fluktuation ermöglicht werden soll. Je mehr Stellen unbefristet sind, desto weniger einfach sind akademische Jobs für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu besetzen. Doch oft sind „Mittel Dritter“, wie es in § 2 Absatz 2 des Gesetzes heißt, ein Grund für eine Befristung, die grundsätzlich so lange gilt, bis Eigenmittel gefunden werden oder die Drittmittel nicht mehr fließen. Es kann also sein, dass eine Stelle aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen trotz Bedarf ausläuft. Von Fluktuation kann hier keine Rede sein.
Ein wesentlicher Punkt der Gesetzesnovellierung, die sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag 2021 festgeschrieben hat, seien Mindestvertragslaufzeiten bei einer Befristung. Noch müssen Details dazu diskutiert werden, wobei die Wichtigkeit der Diskussion von Prof. Seiter hervorgehoben wird, um nicht später von einer unausgereiften Gesetzesänderung sprechen zu müssen. Ich bin gespannt, ob sich die Diskussionen gelohnt haben werden. Das Thema „Befristungsquoten“ in der Wissenschaft, das gesetzlich nicht geregelt ist, kam auch zur Sprache. Hier ist die Faktenlage ernüchternd: Im Jahr 2020 waren mehr als 60% promovierte und mehr als 90% nicht-promovierte Wissenschaftler befristet beschäftigt. Abwarten und Tee, nein Perlbohnen-Kaffee trinken, um zu erfahren, ob die Befristungsquoten in der Zukunft gesenkt werden können!
Die Rede von Prof. Seiter am 29.11.23 kann in einem Video noch mal angeschaut werden.
Ein Streifzug durch ein Museum verspricht Überraschendes. Etwas, das dem Besucher sonst verborgen bliebe. Und es kann sogar sein, dass das Werk erst durch den Werktitel nähere Aufmerksamkeit erhält.
So gesehen bzw. geschehen Ende Oktober 2023. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg unweit von Schloss Charlottenburg in Berlin ist für Surrealismus-Fans eine Schatztruhe voller Zauber, ohne den diese Kunstströmung weniger reizvoll wäre.
Und nun das Zauberwort: Decalcomanía! Der mir zuvor unbekannte Künstler Oscar Dominguez (1906-1957) schuf sie 1935. Auf Deutsch wird die verwendete Technik nicht weniger reizvoll: „Gouache im Abklatschverfahren.“ Im Spanischen wird etwas Wahnsinniges denkbar, denn das Lexem manía bedeutet allein Manie bzw. Wahn. Also wird dabei etwas Verrücktes evoziert. Das Wortteil „Decalco“ lässt mich abschweifen und mich fälschlicherweise ans Entkalken denken, das ohne chemische Reaktion(en) nicht denk- und ausführbar wäre.
Manuela Bethke hat mir dankenswerterweise einen Bestandskatalog-Eintrag der Sammlung Scharf-Gerstenberg zukommen lassen. Darin heißt es zutreffend:
Fantastische Welten eröffnet „Decalcomanía“. Submarine oder kosmische Landschaften entstehen, organische und tote Formen, Gesteine und Korallen scheinen sich abzuwechseln. Der Vorstellung des Betrachters sind keine Grenzen gesetzt, durch das Hineinsehen entstehen immer neue Bilder.
Es lohnt sich also ein näherer Blick auf das Werk, gerade mit einer digitalen Lupe, auf der sehr guten Internet-Seite bildindex.de, die sich als Verbunddatenbank bezeichnet. Gerade in der Vergrößerung (unten links ansteuerbar) wird schön sichtbar, wie sich eine fiktive Landschaft herausbildet. Man könnte an Riffe inmitten eines unübersichtlichen Systems von Wasserläufen denken, so dass als Höhen und Tiefen interpretierte Konturen Dreidimensionalität schaffen. Im unteren Bilddrittel zerfällt jedoch diese Struktur, so dass Analogien, die aus physisch erlebbaren Topographien erzeugt werden, nur bedingt aufrecht erhalten werden können. Für den Betrachter ist das Abgebildete nur schwer begreifbar, gleichsam wie in einer Tropfsteinhöhle, wo Kalkabbauprozesse auch eine kaum erfassbare Landschaft im Erdinnern formen. So passt der nicht übersetzte Titel Decalcomanía auch so gut. Noch einmal sei daran erinnert, dass im französischen Original „décalcomanie“, aus dem das spanische „decalcomanía“ abgeleitet ist, keinesfalls Kalk eine Rolle spielt. „Calque“ bedeutet im Französischen eine Ebene bzw. eine Schicht und auch eine Nachbildung, was ja im konventionellen, negativ konnotierten Sinn ein Abklatsch ist; in der Sprachwissenschaft bezeichnet es auch ein Lehnwort, so dass hier auch ein Transfer (von einer zur anderen Sprache) eine Rolle spielt. Ein „papier calque“ ist ein Pergament- oder Pauspapier, womit hier das Material und das Verfahren im Zusammenhang mit einer Bastelarbeit durchscheint, die natürlich auch künstlerisch wertvoll sein kann. Eine Nachbildung ist also hier ein Abklatsch im schöpferischen, also kreativen Sinn!
Domínguez beschäftigte sich in den 1930er Jahren intensiv mit klassischen Abklatschverfahren, bevor Max Ernst diese Technik in andere integrierte. Ein Abklatsch hingegen ist auch in der Standardsprache ein Phänomen, das ja von der Kunsttechnik herrühren muss, jedoch mit dem Zauberhaften wenig bis gar nichts gemeinsam hat: Eine „(schlechte) Nachbildung eines Originals“, wie es im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt, hat oft einen negativen Beigeschmack, was wiederum durch das Verb „klatschen“ für „schallend schlagen“ aufgewertet und durch das Substantiv „Klatsch“ in Verbindung mit Tratsch wiederum negativ verdreht wird. In der Wortgeschichte wurde der Klatsch (heute eher als Kaffeeklatsch verwendet) als Gerede spätestens im 18. Jahrhundert salonfähig.
Im Katalog las ich außerdem von einem „Abziehbild“ als Ergebnis des Abklatschverfahrens, was auch in der Drucktechnik als Probedruck eine wichtige Funktion hat, ohne dass hier surrealistisches Gedankengut mit im Spiel wäre. Da ein Probedruck früher unvollkommen war, weil er ohne die Druckerpresse, sondern nur durch Bürstenschläge erzeugt wurde, kann dem Abklatsch in der herkömmlichen Tradierung kein Zauber innewohnen.
Im Grunde ist das unplanbare Ergebnis ohne eindeutiges Motiv der Kern des Zauberhaften, weil diese Wirklichkeiten unbestimmbar und unbeherrschbar scheinen. Und das wirkt förmlich sehr real!
Wenige Informationen über den spanischen Surrealisten Óscar Domínguez sind online verfügbar. Immerhin hat eine Londoner Galerie eine Kurzbiografie angelegt, in der auch auch das Zauberwort decalcomanía vorkommt.
Die Lektüre eines E-Books hat einen großen Vorteil: Die Häufigkeit jedes einzelnen Wortes lässt sich genau mit der Suchfunktion ermitteln. 117mal kommt das Wort „Banane“ im Roman Neverend des slowenischen Schriftstellers Aleš Šteger vor. Es verknüpft kunstvoll drei Erzählwelten: die persönliche, die soziopolitische und die historiografische Textwelt.
Die tagebuchführende Erzählerin – der Roman ist auf vier Monate in einer nicht näher bestimmten Zukunft angelegt – kommentiert die Wahl und die Machenschaften des Politikers Platano in Slowenien, der mit seinem sprechenden Namen eine Banane verkörpert (auf Spanisch ist die Banane ein „plátano“). Zum anderen arbeitet sie an einem Romanprojekt, in dem der Naturforscher Giovanni Antonio Scopoli (1723-1788) zusammen mit seinem Korrespondenzpartner Carl von Linné eine wichtige Rolle spielt. Zentral für die Kohärenz von Neverend ist die Szene, als Scopoli vor einem als Paradiesbaum bezeichneten Bananenbaum (lat.: Musa paradisiaca bzw. Musa sapientum) in einem zerstörten Gewächshaus des niederländischen Pflanzensammlers George Clifford auf dessen Gut Hartekamp steht und davor zurückschreckt, in dieser verwüsteten Szenerie den Baum weiter zu untersuchen. Sinnbildlich steht diese Szene für das Unabgeschlosse, das sich im Romantitel wiederfindet.
Auf einer dritten Ebene erhält die Tagebuchschreiberin kurze Erzählungen von drei Gefängnisinsassen, die sie in ihrem Job als Anleiterin zum kreativen Schreiben betreut. Diese Texte beziehen sich auf das reale Kriegsgeschehen im Ex-Jugoslawien. Sie verarbeiten poetisch die feindseligen Handlungen, die Tod und Vernichtung mit sich brachten. Auf einer vierten Ebene kommt im Tagebuch genregemäß auch die intime Gefühlswelt der Erzählerin vor, so dass das Geschriebene keine Trennung von Fiktivem und wahrhaft Erlebtem kennt.
Das Cover des Romans stellt zwei Bananen in den Mittelpunkt. In einem zu kleinen Behältnis sind sie auf einen Nagel gespießt, so dass man an eine lächerliche Art der Aufbewahrung denken könnte:
Cover des Romans Neverend von Aleš Šteger, erschienen in der Übersetzung 2022 im Wallstein Verlag (Das Original erschien bereits 2017.)
Die Bananen stehen im Text aufgrund für einen Handelskrieg zwischen der EU und dem Rest der Welt und zugleich für einen hohen Wert, ohne dass sie per se übermäßig werthaltig wären: Der erste Tagebucheintrag vom 02.09. enthält bereits erläuternde Gedanken:
Kafka bringt Bananen mit. Keine Ahnung, woher er sie hat. Vor zwei Monaten sind sie aus den Regalen der Supermärkte verschwunden. […] Weniger wichtig dabei ist, dass Bananen und zahlreiche andere Artikel zu Objekten des Begehrens geworden sind, deren Wert auf dem Schwarzmarkt schwindelerregend gestiegen ist. Viel wichtiger dagegen ist das Bestärken des unsichtbaren Gefühls, dass jeder von uns in die Geiselrolle eines größeren Systems versetzt wird. Wie eine Seifenblase zerplatzt so nebenbei die angebliche persönliche Freiheit.
Eine Geisel ist ja eine Person, die in Unfreiheit lebt. Es ist eine Art gefühlte Gefangenschaft, aus der man in der Wirklichkeit nicht entkommen kann.
Kafka ist Literaturlehrer und zugleich Geliebter der Ich-Erzählerin. Die namentliche Anspielung an den großen Schriftsteller steht auch für die Absurdität der äußeren Verhältnisse, in denen Schreibprozesse im Roman stattfinden.
Im Roman wird die Frucht der Bananen in einen Sinnzusammenhang gebracht, in dem das etablierte Wort Bananenrepublik für einen autoritären, korrupten Staat nur unzureichend hineinpasst. Vielmehr ist das Populistische, Unreflektierte, das allein auf Emotionen setzt, entscheidend:
„Über Nacht wurden Bananen zum Synonym aller Unzufriedenheit, sie sind die Metapher für alles, was die Menschen vermissen.“ Der gewählte Präsident Platano „verspricht das Ende der Versprechungen, es soll nur noch Taten geben“, unter anderem auch wieder die Bananenbeschaffung.
Wie kann man diese Absurdität, die gewiss zusammen mit dem Handlungsort Gefängnis etwas Kafkaeskes hat, mit der Vergangenheit zusammenführen, die vor allem die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen ist? Die kurzen Erzählungen der Insassen sind womöglich der einzige Ausweg aus dem Abgeriegelten, da nur der Erzählstoff Fluchtmöglichkeiten bietet. Panfi, einer der drei schreibenden Gefangenen, meint dazu: „Wir sind nicht der Freiheit beraubt, sondern der Einsamkeit, und das ist schrecklich[.]“.
Fiil, der zweite Gefangene, holt noch mehr aus:
Selbst die Menschen, die sich in sogenannter Freiheit befinden, leben im Knast, jedoch in einem weniger sichtbaren. Was wir Freiheit nennen, ist lediglich eine vergrößerte Einzelzelle. Wir Häftlinge müssen uns damit abfinden, dass wir eingesperrt sind. Das verleiht uns eine Kraft, die die Menschen draußen nicht haben. Als Häftling schreibe ich, um durch meine Worte aus dem Knast zu entwischen, die einzige Form von Freiheit zu erfahren, die mir keiner nehmen kann. Mein Körper ist hier, meine Gedanken aber sind frei. In unserem Fall ist klar, was wir tun, wenn wir schreiben. Ich verstehe jedoch nicht, warum du schreibst. Du bist frei, in Wirklichkeit ist der Knast aber überall für dich.
In der Tat ist Scopolis Leben für die Ich-Erzählerin eine Zuflucht aus ihrem Dasein, in dem Tod und Leben scheinbar sich die Waage halten. Ihr Roman wird jedoch „ein Manuskript im Tagebuch bleiben müssen, mit Korrekturen und Anmerkungen vollgekritzelt, eine hässliche, unlesbare Schrift, die nur ich entziffern kann“. Der Autorin fehlt es zuletzt an grundlegenden Ressourcen wie Strom und Papier. Ihr Roman bleibt im Tagebuch eingeschlossen. Die aggressive soziale Stimmung zwingt sie dazu, ohne Hab und Gut schließlich aus ihrer unsicher gewordenen Wohnung in die Garage ihrer Nachbarin Paula zu ziehen. Im Grunde ist dieser neue Wohnort mit einer Gefängniszelle vergleichbar. Die scheinbare Freiheit entpuppt sich als Gefangenschaft im Hier und Jetzt. Die Geschichten der Häftlinge könnten hingegen aus ihrer Sicht in der „Literaturbeilage“ einer Zeitschrift erscheinen und damit sich aus einem bestimmten Kontext befreien.
Der letzte Tagebucheintrag vom 31.12. klingt düster: „Ich wohne unter den Toten, dem Anschein nach lebendig.“ Das einzige, was hilft, ist das fehlende Lebensende, das Neverend: „Es gibt kein Ende, und das beruhigt.“
Den exzellenten Roman gibt es direkt (auch als E-Book) beim Wallstein Verlag zu bestellen. Die langen Zitate stehen auf den Seiten 5 und 213. Weitere Informationen (auch zum Autoren) bietet ein weiterer informativer Blogartikel.
Jeder Essay ist buchstäblich auch ein Versuch (wert). Und warum nicht gleich von einem Modellversuch sprechen, wenn eine Welt (re)konstruiert wird? Gerade im Medium Film liegt es nahe, eine Welt auch als Modell darzustellen, gerade wenn die Erzählabsicht nicht ausschließlich auf realen Fakten und Bezügen beruht.
Lars von Trier hat in seinen Filmen gerne das Modellhafte herangezogen, besonders in Dogville (2003). Als ich mich mit seinem Eisenbahn-Film Europa befasste, wurde es mir deswegen bewusst, weil die Modelleisenbahn als Filmmotiv diese Wahrnehmung geradezu aufdrängt.
Und da der Protagonist ein deutsch-amerikanischer Schlafwagenschaffner namens Leopold Kessler ist, erhält die Nacht im Medium Film eine übergeordnete Bedeutung. Die Kritik, allen voran der großartige, recht früh verstorbene Filmrezensent Michael Althen hat die Methode der Hypnose als filmisches Motiv vorangestellt. Durch sie wird der Film als Versuchsmodell noch plastischer, da in Bildern das Modellhafte in einer spezifischen Versuchsanordnung dargestellt wird, die unsere Wahrnehmung von Welt zumindest herausfordert, ähnlich wie in einem Trance-Zustand.
Während in der Adventszeit zumindest vom Evangelium Wachsamkeit eingefordert wird, zieht in der Heiligen Nacht auch die Ruhe und der Schlaf ein (man denke hier an das Lied Stille Nacht, heilige Nacht). Vielleicht findet mancher die wahre Stille der Nacht erst in einem mittels Hypnose manipulierten Bewusstsein? Schlaf und Trance werden sicher auch dank medizinischer Therapiemöglichkeiten in Zukunft sicher etwas stärker thematisiert.
Kessler lernt Deutschland kurz nach der Stunde Null kennen, unter anderem auch den zwielichtigen Unternehmer Hartmann als Chef der Eisenbahngesellschaft Zentropa und seine Tochter Katharina, mit der er ein Verhältnis eingeht. Hartmanns Rolle im Krieg kommentiert Katharina kurz nach seinem Freitod, im Grunde eine Kapitulation vor seiner auf sich genommenen Schuld, folgendermaßen:
Für Vater war Transport ein heiliges Wort. Für ihn war das Wichtigste, dass die Räder weiterrollten. […] In seinen Augen war ganz Deutschland wie eine Modelleisenbahn, die immer rundherum fuhr, und rund und rundherum. Und er redete sich ein, seine Waggons wären genauso leer wie seine Spielzeugzüge.
Der folgende Screenshot zeigt eine zerstörte Modelleisenbahn-Landschaft, bei deren Anblick man zwangsläufig an reale Kriegszerstörungen denken muss:
Zerstörte Modelleisenbahn-Landschaft. Screenshot aus: Europa (1991), Regie: Lars von Trier, 54’2”
Da ein Modell getroffen wurde, lässt sich hier jedoch auch an die zerstörerische Ideologie des Totalitarismus denken: Ein Modell bietet jedem Betrachter eine Totale, die sich in der Wirklichkeit eben nicht so leicht ergibt. Es liegt eine Gesamtschau vor, die in ihrer Gestaltung eine romantisierende Prägung erhält. Deutschland als Heimat der Modelleisenbahn: Spielzeugzüge lassen viele Kinder und natürlich auch Erwachsene fahren. In vielen Bahnhöfen der Deutschen Bahn betreut bis zum heutigen Tag die Wimmelbahn GmbH kleine Modelleisenbahnen, die gegen Münzeinwurf fahrbereit sind (vgl. Artikel „Der letzte Bahnchef“ von Raoul Löbbert vom 29.10.23 in Die Zeit).
Zur Wahrheit gehört auch, dass ohne das engmaschige Eisenbahnnetz in den 1940er Jahren längst nicht so viele Menschen in den Tod hätten geschickt werden können. Anknüpfend an diese Erkenntnis verwandelt sich das Modellhafte, das im herkömmlichen Wortsinn Vor-Bild-Charakter für die Darstellung einer fingierten, gelungenen Wirklichkeit hat, in Europa in etwas Albtraumhaftes, das an eine misslungene Hypnose denken lässt.
„Äußerst unsicher, obs die Welt überhaupt noch gibt, wenn es draußen schwarz ist.“ Diesen Satz aus Albrecht Selges Eisenbahnroman Fliegen (erschienen 2019 im Rowohlt Verlag) könnte man für den ganzen Film Europa heranziehen. Das Zeitlose der Nacht wird hier in Bilder getaucht, die zusammen mit der exzellenten Filmmusik einen Zuschauer auch noch in den Schlaf begleiten können….
Der Film Europa, der bis Ende 2023 in der Arte-Mediathek verfügbar ist, ist der letzte Teil der Europa-Trilogie von Lars von Trier. Zu allen drei Filmen bietet der wissenschaftliche Beitrag von Dietmar Kammerer mit dem Titel „Traum-Reisen, Traum Geschichten“, erschienen 2009 im Sammelband Das Kino träumt. Projektion, Imagination, Vision sehr interessante Einsichten. Das längere Zitat findet sich am Anfang der 71. Filmminute.
Während das sinfonische Werk von Alexander Skrjabin auf synästhetische Weise Farben hervorscheinen lässt, tauchen aus den Gemälden von Adolf Hölzel Klänge auf. Diese sonderbare sinnliche Wahrnehmung mag auf die meisten Zuhörer bzw. Betrachter nicht zutreffen, doch Künstler ziehen ihre Schaffenskraft aus Ressourcen, die sich nicht vollends nachvollziehen lassen. Schon deswegen ist Kunst auch als Mysterium zu werten.
Der Titel Komposition (Anbetung) eines Gemäldes aus den 1920er Jahren zeigt bereits, dass sich die Nähe zur Musik aufdrängt. Das Werk war in einer Ausstellung der Sammlung Felix und Herlinde Peltzer-Stiftung im Altenburger Schloss zum ersten Mal in der Nähe des Ortes zu sehen, wo es als Dauerleihgabe beheimatet sein wird: 2021 wurde nämlich eine Kooperationsvereinbarung mit der besagten Stiftung und dem 2027 nach mehrjähriger Renovierung wiedereröffnenden Lindenau-Museum geschlossen, das somit um einen Schatz reicher wird.
Es fasziniert mich, wie ein Motiv, nämlich die Anbetung des jungen Jesus Christus, subtil in eine Art Farbenkosmos eingearbeitet wurde, ohne dass es einem unaufmerksamen Auge auffallen würde. Das Anbetungsmotiv kommt überdies in Hölzels Werk mehrfach vor, so dass man es leicht für eine spezifische vergleichende Forschung heranziehen könnte:
Adolf Hölzel: Komposition (Anbetung), Pastell auf Papier, um 1925. Leihgabe aus der Sammlung Felix und Herlinde Peltzer. Foto: Lindenau-Museum Altenburg
In einem Aufsatz von Karin von Maur mit dem einschlägigen Titel „Hölzel und die Musik“ erfahren wir, dass der 1853 im mährischen Olmütz (Olomouc) geborene Hölzel schon vor dem Aufkommen des Expressionismus „an der Stuttgarter Akademie seit 1906 schwerpunktmäßig auf ein intensives Studium der Farben, ihrer Kontraste und der Wechselwirkungen“ Wert legte. Farbtafeln setzten an Farbenlehren des beginnenden 19. Jahrhunderts an, deren bekanntester Vertreter wohl Johann Wolfgang von Goethe war. Hölzel sprach 1919 auf einem Vortrag auf dem Ersten Deutschen Farbentag von einem „Toncharakter“ und der Möglichkeit, ihn von einer „Tonart“ in eine andere zu „modulieren“ und dabei verschiedene „Klangfarben“ zu erzeugen. Hierbei muss es ein Vorteil gewesen sein, dass Hölzel seit seiner Kindheit regelmäßig Geige spielte und sich auch mit dem Kontrapunkt nach Johann Sebastian Bach vertraut machte. Dass Hölzel in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs Glasfenster im „Konferenz- und Festsaal der Keksfabrik Bahlsen in Hannover“ gestalten durfte (teils im Original erhalten, teils reproduziert), zeigt die hohe Wertschätzung, die dem Künstler in der Öffentlichkeit zuteil wurde. Bei der künstlerischen Ausgestaltung ist vom Künstler selbst ein Verweis auf Atonalität als ein Merkmal moderner Musik enthalten. Das 1916 fertiggestellte Ölgemälde Fuge (über ein Auferstehungsthema) enthält laut von Maur eine „markante Modulation“, die das Hell-Leuchtende einer Dur-Tonart und das Kühl-Dunkle einer Moll-Tonart zuweist: „Das Bildfeld wird so in zwei Farbzonen geteilt, die mit einem Tonart-Wechsel von ‚durverwandten’ nach ‚mollverwandten’ Tönen einhergeht.“ Es komme laut Hölzel also nicht auf den Gegenstand an, wenn es um das Harmonische geht.
Über das vorliegende Pastellbild Komposition (Anbetung) habe ich wenig Informationen gefunden, wohl auch deswegen, weil das Bild bisher nun im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum für die Öffentlichkeit zu sehen war.
Man könnte meinen, dass man bei der Betrachtung in ein Farbenklangbad aus kalten und warmen Tönen eintaucht. Dabei strukturieren gleichermaßen Linien und Flächenformen das Bild. Recht schnell bemerkte ich jedoch, dass das Unterscheidungsprinzip Linie-Fläche hier nicht aufgeht: Am rechten Bildrand lässt sich schön untersuchen, wo genau sich eine Linie und wo eine Fläche wahrnehmen lässt. Die Zuordnung fiel zumindest mir schwer, was wohl daran liegt, dass das Gemälde teilweise keine eindeutig bestimmbaren geometrischen Formen enthält. Ebenso wird mir bewusst, dass die Betrachter die Anbetenden und den Angebeteten nicht eindeutig von der Umgebung abgrenzen können. Das Objekthafte fehlt und kann nur imaginär mitgedacht werden. Genau das macht ja die Bildkomposition aus: Es gibt keine Hierarchien, weder ein Zentrum noch eine Peripherie. Nur aus unserem visuellen Erfahrungswissen können wir uns das geneigte Haupt im wahrsten Sinne des Wortes einbilden. Es wird ganz sicher vom Bilderfahrungsschatz des Betrachters abhängen, ob, und wenn ja, wie stark eine Anbetungsszene imaginiert wird. Zweifelsohne hätten viele Betrachter – mich eingeschlossen – ohne den Titel keine Anbetung wahrgenommen. Nun, ein wacher Blick mag die Grundfarben Rot-Blau-Gelb in relativ mittiger Position ausmachen, die in ihrer Anordnung die Interpretation mit dem Inhalt vorgebeugter Oberkörper plausibel erscheinen lässt. Nicht nur mein Auge, so vermute ich, wird wohl zu dieser Farbkonstellation hingeführt, ohne dass es eines längeren Suchvorgangs bedürfte. Und schließlich öffnet sich das ganze Werk hin zu diesem Anbetungsmotiv, da es in manchen ähnlichen Formen, in denen sich unabhängig von der Farbwahl ein geneigter Kopf erkennen lässt, angedeutet wird. So erfüllt sich auch der Titel Komposition: Das Werk ist quasi durchwirkt von einem zentralen Konzept, das Bildgestaltung und -inhalt miteinander verknüpft.
Ein langes Künstlerleben ging erst 1934 in Stuttgart zu Ende. So erlebte Adolf Hölzel viele Stilrichtungen, ohne dass er einer bestimmten Epoche zugeschrieben würde. Das macht sein Werk besonders spannend. Eine große (Wieder-) Entdeckung seines eher vernachlässigten Werks steht wohl noch aus. Ganz klar: Der alte Goethe hat diesen Farbrausch nie zu sehen bekommen. Dass wir diese Komposition(en) entdecken können, ist unser großes Privileg!
Herzlichen Dank an das Lindenau-Museum Altenburg, insbesondere an Frau Anna Lutz, und an die Felix und Herlinde Peltzer-Stiftung für die Abbildungsgenehmigung! Ebenso sei Vincent Rudolf, ehemaliger Mitarbeiter des Suermondt-Ludwig-Museums für seine bibliografischen Auskünfte gedankt. Die Zitate aus dem Aufsatz von Karin von Maur finden sich auf den Seiten 130ff. im Sammelband Vision Farbe. Adolf Hölzel und die Moderne, herausgegeben 2015 von Christoph Wagner und Gerhard Leistner im Wilhelm Fink Verlag.
Hätte ich früher im Deutschunterricht Sibylle Bergs Die Fahrt gelesen und diskutiert, wäre ich wohl eher auf den Trichter gekommen, dass Literaturstudien auch nach der Schulzeit von großem Interesse sein können.
Sibylle Berg ist als Persönlichkeit und Schriftstellerin streitbar und sicher auch streitlustig: sie hat sich für die Satire-Partei (mit dem blassen Namen Die Partei) im Europawahlkampf 2024 als Kandidatin aufstellen lassen. Ihre Werke fallen allgemein mit einem gewissen „pessimistisch-sarkastischem Ton“ auf, neben dem „formale Experimentierlust“ spürbar ist, wie die FAZ ihr Werk am Rande eines Interviews mit Edo Reents formulierte (Ausgabe vom 25.09.23). Nachdem ich am Silvesterabend 2021 im Maxi-Gorki-Theater von ihrem Stück Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden (u.a. mit Katja Riemann) mäßig begeistert war, wird mir Die Fahrt besser im Kopf bleiben.
Dass unter anderem die Kulturstiftung Helvetia und das Globetrotter Reisebüro Bergs Romanprojekt unterstützt haben, wie man im Impressum erfahren kann, zeigt ein gewisses Engagement für die Sache, und die Sache heißt Literatur, für die gerade bei einer einschlägigen Thematik das Reisen essentiell ist.
Die Fahrt, zuerst erschienen 2007, erzählt von Reisenden, die sich untereinander mehr oder weniger gut kennen. Sie sind oder werden vor und während ihrer Reisen Bekannte. Insofern gibt der Romantext Reiserelationen in doppelter Hinsicht wieder: Personen und Orte werden miteinander so verknüpft, dass beide Kategorien zueinander eine Beziehung eingehen: Die Orte werden meist in Bezug von Relationen innerhalb von Städten oder Orten oder zwischen ihnen beschrieben, so dass die Wahrnehmung der Erzählstimme weniger das Wesentliche als das Flüchtige thematisiert, so dass das Erzählte mitunter grob-verzerrt herüberkommt. Sibylle Berg hat damit den Stempel ihrer Reisen auf die verschiedenen Charaktere aufgedrückt.
Zwei der gut zehn Figuren sollen als kleine Kostprobe dienen: Frank und Ruth. Während die ihm gewidmeten ersten drei Kapitel in Berlin und die letzten drei Kapitel in Reykjavík verortet sind, so begegnen wir Ruth in Franks erstem Berlin-Kapitel, bevor wir in sieben folgenden Kapiteln ihrer Reise bruchstückhaft folgen können: Drei Kapitel handeln in Tel-Aviv, drei weitere jeweils in Wien, Neu-Ulm und Paris, bevor wir sie im letzten Kapitel in Reykjavík wiederfinden.
Von Frank erfahren wir in sechs Kapiteln genau so viel, dass wir uns ihn als daheim in Berlin Dahinlebenden vorstellen können, der mit sich zufrieden ist, vielleicht deswegen, weil „eine Abwesenheit von Erwartungen“ vorherrscht:
Frank konnte heute verstehen, dass Berlin gemeinhin als wenig anziehend galt, denn die Stadt war definitiv eine äußerst hässliche Angelegenheit. Keiner hätte geglaubt, dass dieser Klumpen eingezäunten Drecks jemals wieder so etwas wie eine Metropole werden konnte. Nun war es eine, mit all den dazugehörigen Luxusläden, Kiezen, Parallelwelten, die sich nicht berührten. Es gab ein paar ästhetisch ansprechende Orte, doch hielten die sich immer so weit entfernt von einem selbst auf, dass man sie nie aufsuchte. (…) So grenzten die Menschen mit zunehmendem Alter ihren Radius ein, gewöhnten sich an die Kneipen, Läden, Grünflecken in ihren Vierteln, die nicht größer waren als ein Dorf. Vermutlich sind Menschen von jeder Ansiedlung, die die Größe einer Kleinstadt überschreitet, überfordert.
Das Glück blitzt kurz auf, als er Ruth kennenlernt, als er einen aus seinem Nest gefallenen Vogel erstversorgt, mit ihr und einer Flasche Wein eine Nacht verbringt und anschließend das Leben des Vogels bei sich zu Hause für drei Tage verlängert. Eine Fernreise nach China bricht er ab, als er in einem startklaren Flugzeug sitzt; schließlich nutzt er einen dienstlichen Kontakt in Island aus, als er sich endlich einen Ruck heraus aus einem festgefahrenen Leben geben kann. Lebensglück kehrt somit andernorts im Geiste der Gemeinschaft ein:
Am Abend war Frank so verabredet, wie man es in Island tat. Komm doch vorbei, sagte man, und dann kamen alle vorbei und hockten in Küchen, gingen später noch in eine Bar oder irgendeine andere Wohnung, um da herum-zuhocken. Dabei wurde immer nett geschwiegen, bis mehrere Isländer umfielen. Ohne Umfallen war der Abend kein gelungener. Frank, der nie ein Freund von Gesellschaft gewesen war, fühlte sich inmitten dieser merkwürdigen Menschen ausnehmend wohl. Vielleicht war es das Abhandensein von Eitelkeit, das die Atmosphäre so angenehm machte. Alle waren irgendwie verwandt, wer wollte da angeben?
Ruth lebt zu Anfang des Romans recht einsam als Übersetzerin ohne große Leidenschaft in Tel-Aviv. Statistiken übermitteln lakonisch-sarkastisch die Gefahren des Alltags, die leider im Oktober 2023 eine brutale Aktualität erfahren mussten: „Sie hatte gelernt, Autos mehr zu fürchten als Terroristen, es gab 6000 Verkehrstote jedes Jahr, dagegen nur 200 Terrortote.“ Wenige Abschnitte später heißt es : „3838 Terroranschläge gab es im letzten Jahr, täglich wurden 40 Attentatsversuche vereitelt. Alltag ging da nur mit Verdrängen.“ Zwei weitere Kapitel begleiten wir Ruth desillusioniert in Israel, bevor sie unfreiwillig auf der Rückkehr in die Heimat einen Kurzaufenthalt in einem Wiener Stundenhotel einlegt, ebenso unfreiwillig auf der Zugfahrt nach Berlin in Neu-Ulm strandet, zur Ablenkung ihre Sommerferien im brütend heißen Paris verbringt, wo sie zur ersehnten Abkühlung ein weiteres „Sommersonderangebot“ aufschnappt, nämlich zwei Wochen Island. In einem Reykjavíker Café trifft sie im fünftletzten Kapitel unverhofft Frank wieder. Sie erinnern sich an ihr erstes Zusammentreffen; in einem Leuchtturm verbringen sie gemeinsam eine romantische Nacht, als ihnen das Meer den Weg zum Festland versperrt. Einige Wochen herrscht das Glück in neuer Zweisamkeit vor, nachdem sie sich in das von Gunner zurückgelassene Haus eingemietet haben, der auch sein Todesort sein wird: Frank stirbt schließlich krebskrank „im Morphiumnebel“ im Beisein von Ruth.
Das letzte Kapitel knüpft an das erste Kapitel an, als von eben diesem Gunner die Rede war, der sein Haus nach der Trennung von seiner Freundin verlässt. Hier ist die Beziehung mit einer weiteren Figur also keine persönliche, sondern rein örtlich. Dadurch, dass die Reisen aller Charaktere flüchtig geschildert werden, festigen sich keine Konstellationen. Das Raum-Zeit-Kontinuum hat im Buch keine Relevanz, was eine aufmerksame Lektüre erfordert: Das Sprunghafte wird in diesem Roman zur erzählerischen Tugend: Wer das Buch ein zweites Mal liest, wird zuvor verborgene Bezüge auftun können.
Leider kommen die beigefügten Fotografien in der rororo-Taschenbuchausgabe (Rowohlt Verlag) qualitativ nicht gut weg. In der Ausgabe von Kiepenheuer & Witsch (Kiwi) entfalten sie eine deutlich bessere Wirkung. Sie geben dem Erlebten buchstäblich noch eine größere Dimension, da mit ihnen die beschriebenen Orte noch präsenter wirken. Die Lust zu fabulieren macht aus diesen Schnappschüssen zusammen mit präzisen, meist skurrilen Reisebeobachtungen an kaum zu überblickenden Orten eine zeitlose, rasante Erzähl-Fahrt, gleichsam ein literarisches Fahrtenbuch. Die vielleicht vorhandene Reisekostenabrechnung von Sibylle Berg wäre im Literaturmuseum Marbach sicher gut aufgehoben!
Lieferbar ist die KiWi-Ausgabe direkt beim Verlag. Die längeren Zitate befinden sich in der rororo-Ausgabe auf den Seiten 15 und 311, die kürzeren auf den Seiten 36f.
Deep-L ist mittlerweile zu einem recht bewährten Werkzeug geworden, mit dem sich nicht nur gut übersetzen, sondern auch zusammenfassen lässt. Das Potenzial ist gewaltig.
Als ich im Studium Spanisch lernte, kam die poetische Kraft der Sprache eindeutig zu kurz. Doch als ich Ende August auf Deutschlandfunk Kultur den ruhigen Popsong Ámbar – zu deutsch: bernsteinfarben – von Calavera hörte, dachte ich mir, wie schön es wäre, nicht nur einige Brocken im Audioradio aufzuschnappen, sondern auch den ganzen Liedtext zu durchdringen. Außerdem hilft es, wenn man dank der kostenlosen Version von Deep-L eine schnelle Übersetzung ins Deutsche erhält (und dazu auch kurze Zusammenfassung des Liedtextes). Zweimal – am 04.09. und am 28.09. – bemühte ich das Tool: Während die beiden gelieferten Übersetzungen so gut wie übereinstimmen, sind die Zusammenfassungen komplett verschieden. Als mögliches Unterrichtsthema wäre es nun sinnvoll, diese beiden Version miteinander zu vergleichen. Während der erste Versuch sehr stark am Liedtext klebt, ist der zweite deutlich freier und vor allem auch abstrakter formuliert, so dass hier das Interpretatorische stärker hervorkommt. Genau das ist ja wichtig, um sich von dem Modus des Beschreibens zu lösen und Bedeutungen herauszufiltern, ohne dabei besondere Ausdrücke aus dem Blick zu verlieren:
Am 04.09. hieß es:
Der Text handelt von einer Person, die von einem Zug springt und sich plötzlich alleine fühlt. Sie sehnt sich nach der Anwesenheit einer anderen Person und vermisst deren Fußabdrücke. (…) Sie braucht diese Person mehr als andere und wenn diese nicht in ihrer Nähe ist, verliert sie sich immer wieder in der Stadt.
Am 28.09. las es sich ganz anders:
Der Text handelt von einem Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit in einer Stadt. Die Protagonistin erinnert sich an eine vergangene Beziehung und sehnt sich nach der Anwesenheit der Person. (…) Die Stadt symbolisiert dabei ihre eigene innere Leere. (…) Dieses Verlieren in der Stadt symbolisiert auch das Verlieren von sich selbst und einer Identität ohne die besagte Person.
Das klingt deutlich überzeugender, wenngleich es voreilig ist, die Stadt als Symbol zu sehen. In ihr ist die Einsamkeit zu beobachten, doch wird sie nicht beschreibend einbezogen. Im Refrain heißt es:
Sigo perdiéndome en la ciudad
Si ya no tengo a dónde ir
Te necesito más que a los demás
Sigo perdiéndome en la ciudad
Si no te tengo junto a mí
Es que prefiero recordarte así
Como una luz en la oscuridad
Die deutsche Übersetzung gibt den Text fehlerfrei wieder:
Ich verliere mich immer wieder in der Stadt
Wenn ich nirgendwo anders hingehen kann
Ich brauche dich mehr als die anderen
Verliere ich mich immer wieder in der Stadt
Wenn ich dich nicht neben mir habe
Ich würde mich lieber so an dich erinnern
Wie ein Licht in der Dunkelheit
Diese gute Übersetzungsleistung reicht jedoch nicht aus, um gänzlich richtige Schlüsse daraus zu ziehen. Beziehungsverlust führt letztlich oft zu Einsamkeit, doch was kann in diesem Kontext die Stadt dafür?
Die erste Strophe mag als Beispiel dafür dienen, wie im Original eine bestimmte Verlust-Stimmung einer geliebten Person beschrieben wird:
Bajé de un salto
De tu tren en marcha
Rodé sobre la escarcha en el asfalto
Sentí tu falta
Y ahora me asaltas
Y ya no queda ni rastro de tus huellas descalzas
Im Deutschen wird dies auf Deep-L folgendermaßen (nach einem groben wiederholten grammatischen Fehler in den September-Versionen) am 05.10. übersetzt:
Ich sprang hinunter von deinem fahrenden Zug
Ich rollte über den Frost auf dem Asphalt
Ich fühlte deine Abwesenheit und jetzt überfällst du mich
Und es gibt keine Spur mehr von deinen barfußigen Fußabdrücken
„Barfußige Fußabdrücke“ klingt mit insgesamt acht Silben wenig elegant; „rollen“ wäre besser freier mit „schlittern“ oder „sich treiben“ übersetzt, wodurch die kreisende Vorstellung des Ausgangsverbs verloren geht. „Escarcha“ ist mehr der (funkelnde) Raureif als bloßer Frost. Gänzlich falsch wurde das Verb „asaltas“ (Infinitiv: asaltar) am 04.09. und am 28.09. im Imperativ als eine Art Aufforderung mit „überfallen“ übersetzt. Warum eigentlich? Es handelt sich ja um den Indikativ, was in der Oktober-Übersetzung (endlich!) grammatisch richtig gestellt wurde. Auf Deutsch lässt sich das nur ungut wiedergeben; man könnte hier vielleicht mit „Nun komme ich nicht von dir los“ übersetzen. Im Spanischen dürfte die Verknüpfung des Springens, nämlich des Absprungs mit „bajé de un salto“ (Zeile 1 – Infinitiv: bajar de un salto) und des mentalen Aufspringens mit „asaltas“ (Zeile 5 – Infinitiv: asaltar) möglich sein, wenn man sich jeweils einen (Beziehungs-)Zug dazudenkt. Von einem fahrenden Zug zu springen lässt sich als Trennung ohne eindeutiges Motiv verstehen; nun ist die physische Abwesenheit und die gedankliche Anwesenheit des Gegenübers stark ausgeprägt: Inhaltlich kann es ja demnach beim Aufspringen nur um ein mentales Belagern, nicht um ein Überfallen gehen (Stichwort: Spurenlosigkeit). Hier merkt man, wie schwierig es für die KI immer noch ist, die richtige Bedeutung des Verbs aus dem besungenen Kontext herauszulesen.
Kurz noch zum Musikalischen: Dieser Song ist raffiniert psychedelisch komponiert. Besonders gelungen finde ich die harmonischen Wechsel auf den Endsilben „tí“, „ir“ und „mí“, der nach meinem Eindruck einen Ton-Sprung wiedergibt, der den Original-Text gut illustriert. So passt der Titel „bernsteinfarben“ sehr gut, der sich zumindest im Songvideo auf ein blinkendes Ampellicht bezieht. Wer nun glaubt, dass dieses Licht im Reich der Poesie verbleibt, irrt: Auf der Homepage der Stadt Mainz wird sogar für den Einsatz dieser Farbe für Beleuchtungszwecke geworben: „Sogenannte Amber-LED-Leuchten strahlen langwelliges, bernsteinfarbenes Licht ab und haben sich als sehr umweltfreundlich erwiesen.“ Bezogen auf Calveras Song poetischer formuliert: Ámbar ist im wahrsten Sinne ein Glanzlicht!
Das Lied kann hier (in Verknüpfung mit einem Musikvideo) nachgehört und der Songtext nachgelesen werden.
Mit einem gewissen Augenzwinkern könnte man es als Jahrhundertereignis bezeichnen, dass die Chorfantasie von Ludwig von Beethoven 2020 eine neue, längere (acht statt sechs Strophen!) Textfassung erhielt. Und das von niemand geringerem als von Prof. Norbert Lammert, dem langjährigen Bundestagspräsidenten. Das ungewöhnliche Werk für Chor, Orchester und Klavier (Opus 80) hätte im Beethoven-Jahr 2020 mit dieser Fassung in der Essener Philharmonie Premiere gehabt; aufgrund der Pandemie wurde sie am 10. Juni 2023 innerhalb eines festlichen, gattungsübergreifenden und deshalb aus der Reihe fallenden Rahmens aufgeführt. Nur durch diese mehrjährige Verspätung kam ich in den Live-Genuss, da mein Vater seinen 75. Geburtstag mit diesem Beethoven-Abend krönte. Übrigens hatte eine Kammermusik-Version (für Chor und Klavier zu vier Händen) am 3. Oktober 2020 Premiere; selbstverständlich am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Lammert leitet.
Prof. Lammert äußert sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – er verweist auf seiner Homepage auf seinen Artikel– zu dem ungewöhnlichen Arbeitsauftrag. Er erinnerte dabei daran, dass Beethoven „Rahmen aufgebrochen hat, ohne sie zu zerstören“. Die Chorfantasie und die Weiterentwicklung in eine Sinfonie, nämlich der Neunten, erwähnt Lammert als Beispiel für eben jenen aufgebrochenen Rahmen. Der Melodiekern der Vertonung von Schillers An die Freude findet sich nämlich schon in der außergewöhnlichen Chorfantasie.
Den ersten Text steuerte ebenfalls ein politisch Tätiger bei, nämlich der Dichter und „Geheime Staats- und Konferenzrat“ Christoph Kuffner (1780-1846) im Jahre 1808. Der „Dichter und Kulturminister“ der Deutschen Demokratischen Republik, Johannes Becher (1891-1958), textete 1951 die zweite Version. Also auch zumindest im weiteren Sinne ein Politiker. Was liegt näher, die drei Textversionen der Chorfantasie miteinander zu vergleichen? Vorarbeit wurde schon geleistet: In der Zeitschrift Musik und Kirche werden in der sechsten Ausgabe des Jahres 2021 die drei Versionen gegenübergestellt. Der Autor Stephan Eisel betont in seinem Aufsatz (Titel: „‚vielleicht einen anderen Text’. Drei Texte für Beethovens Chorfantasie“) , dass der Frieden in allen drei Versionen thematisiert werde. Weitere inhaltliche Angaben macht er aber so gut wie nicht.
Kuffners Text wurde schon zu seinen Lebzeiten eher als mäßig beschrieben. In seiner dritten Strophe heißt es:
Wenn der Töne Zauber walten
Und des Wortes Weihe spricht
Muss sich Herrliches gestalten
Nacht und Stürme werden Licht.
Wenn das keine Ode an die Kunst ist? Der Begriff ‚Schönheitssinn’ in der zweiten Liedzeile wird hier noch einmal in einer Überhöhung künstlerischer Gestaltung vor Augen geführt. Becher verändert nicht viel in seiner Version, doch eindeutig wird die Kunst in Zusammenhang mit einer friedfertigen, freiheitsliebenden Menschheit gebracht :
Wo sich Völker frei entfalten
Und des Friedens Stimme spricht
Muss sich Herrliches gestalten
Nacht und Träume werden Licht.
Vor der künstlerischen Gestaltungsmacht ist also Frieden die Vorbedingung; die politische Dimension wird bereits deutlich spürbar. Bei Norbert Lammert wird der hohe Wert des Friedens innerhalb Europas Gesellschaften nun vollends in den Vordergrund gestellt, wenn wir in der fünften Strophe hören:
Traut dem Frieden, Europäer
Schätzt und schützt ihn allezeit
Glaubt den Aufgeklärten eher,
Als den Gegnern weit und breit.
Die Kunst wird in der dritten Version nicht noch einmal neu besungen – an ihrem hohen Wert gibt es keinen Zweifel. Doch wir haben gelernt, dass das Schätzen und Schützen von Werten, also auch dem Frieden, einer gewissen Anstrengung bedarf. Diese beiden wichtigen Verben, die phonetisch nur ein Umlaut unterscheidet, kann man in der Chorfantasie deutlich heraushören. Die Botschaft beinhaltet auch, dass es auf der Welt noch zu viele Friedensgegner gibt.
Die Vorstellung des Aufgeklärt-Seins bezieht sich hier weniger auf das Jahrhundert der Aufklärung, sondern mehr auf das Verständnis von Frieden und dessen Voraussetzung für ein demokratisches Miteinander, das sich im europäischen Geist als Friedensethik ausformulieren lässt.
Aus der Diktaturerfahrung und der Wahrnehmung einer entsetzlichen historischen Schuld, die wir auch und gerade gegenüber unseren europäischen Nachbarn eingegangen sind, ist ein neues Verständnis von Demokratie und Verfassung gewachsen, auch ein neues Verständnis vom notwendigen Umgang von Demokraten miteinander: ein anderes Verständnis von der notwendigen Balance zwischen Konkurrenz und Konsens, zwischen Konflikt und Kompromiss, zwischen Interessen und Überzeugungen. […]
Europa ist nicht nur ein großes Versprechen, es ist auch eine große wechselseitige Verpflichtung und nur mit der Erfüllung dieser freiwillig eingegangenen Verpflichtungen lässt sich das große Versprechen einlösen.
Ich persönlich höre nach Lammerts Text die Chorfantaise und ebenso Beethovens 9. Sinfonie anders als vorher. „Freude schöner Götterfunken“ klingt poetisch-erhaben, doch kann ich mich mit diesem Text nicht vollkommen identifizieren. Euphorie mag sich für mich bei diesen Worten und Klängen nicht einstellen. Ich finde es zugänglicher, Elemente der (problematischen) Wirklichkeit in einen Gesangstext aufzunehmen. Denn so werden Herausforderungen akzentuiert und nicht nur ferne, unerreichbare Höhen, die nur im Augenblick einen Klang-Rausch erzeugen können. Lammerts Worte dringen tiefer ein, auch wenn andere meinen könnten, dass bei ihm ästhetisch-klangvolles Vokabular ein wenig zu kurz kommt. Das mag sein, doch das haben Kuffner, Becher und natürlich auch Schiller in seiner Ode An die Freude schon geleistet. Die Appellfunktion ist nun stärker denn je; und das ist der Ruf des Augenblicks. Der Konzertsaal ist die eine Bühne, das europäische Parlament die andere Wirkungsstätte. Und wenn ich beide Orte zusammen denke, so erscheint mir die Chorfantasie mit Norbert Lammerts Version mit eigenständiger Akzentsetzung wie eine musikalische Klammer, die es auch nach Brüssel zur Aufführung schaffen sollte. Vielleicht hört dann der eine oder andere EU-Parlamentarier zu; natürlich sollte die Textversion auch in alle im Parlament vertretenen Sprachen übertragen werden. Ob dann noch jemand an die Vokabel „feuertrunken“ (das Reimwort zu Götterfunken) denkt?
Trockenborn-Wolfersdorf, ca. 30 km südöstlich von Jena, hat für einen gelungenen Sommerausflug genau die richtigen zwei Programmpunkte parat: Ein zauberhaftes Jagdschloss mit dem poetischen Namen Fröhliche Wiederkunft und ein idyllisch gelegenes Waldbad Herzog Ernst.
Ich hatte großes Glück, dass ich Ende Juli 2023 beide Orte genießen konnte, denn zum einen war das Wetter alles andere als stabil und zum anderen ist das Schloss nur an Wochenenden mit einer Führung zu besichtigen.
Zunächst zum Waldbad: Als ich gegen 18 Uhr nach der letzten Schlossführung dort vorfuhr, war es vollkommen verlassen. Zeitgleich mit mir fuhren zwei weitere Badegäste und ein Mitarbeiter vor, der sich als „Bürgermeister“ vorstellte und etwas wegen der „Chemie“ im Bad anschauen wollte. Vom Bademeister keine Spur. Doch: Sein rotes Auto war am Eingang geparkt; an der Fahrertür stand ein Eimer frisch gepflückter Äpfel. Offenbar war er ausgeflogen, da am Nachmittag das Wetter sehr windig war und Regen drohte, der dann eher im Umkreis fiel. Gegen Abend heiterte es auf, und er schien kaum damit zu rechnen, dass noch jemand schwimmen wollte. Der Bürgermeister (Siegfried Häfner) versuchte ihn vergeblich telefonisch zu erreichen; nach einigem Hin und Her öffnete er für uns drei das Bad und erlaubte schließlich auch das Baden, obwohl er ja nicht offiziell die Aufsicht haben durfte. Es war schließlich auch nur an eine Frage der Zeit, bis die Aufsichtsperson eintreffen würde. Einige gesammelte Pilze auf einem Tisch im Waldbad zeugten offensichtlich von dessen Müßiggang, da ein richtiger Badebetrieb sich an dem Tag nicht einstellen wollte. Gegen 18.30 Uhr trudelte der Bademeister ein, so dass ich bis zum Ende der Öffnungszeit den Abend genießen konnte. Ein wahrlich besonderer Genuss, für den sich die anfängliche Ungewissheit lohnte.
Waldbad Herzog Ernst in Trockenborn-Wolfersdorf
Zuvor, im Jagdschloss, hatte ich Kaffee und Kuchen genossen, bevor dann die besonders informative Führung anstand. Der Bauherr des Schlosses, Kurfürst Johann Friedrich I. (1503-1554), der auch als Herzog von Sachsen betitelt wurde, wählte den Namen Fröhliche Wiederkunft, weil er nach seiner fünfjährigen Haft aufgrund seiner Anhängerschaft zur Reformation an das Wiedersehen seiner Frau Sibylle von Kleve und seinen Kindern erinnern wollte, das der Legende zufolge am Ort des Jagdschlosses stattfand. Das Schloss wurde 1550 nach dreijähriger Bauzeit fertiggestellt und dann später ab den 1850er Jahren von Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg im neugotischen Stil umgebaut, wohlgemerkt, nachdem es etwa 300 Jahre lang in einen Dornröschenschlaf gefallen war und dadurch verfiel. Sein letzter adeliger Besitzer war Ernst II. von Sachsen-Altenburg, nach dem auch das Waldbad benannt ist. Er lebte noch zu DDR-Zeiten bis zu seinem Tod 1955 im Schloss. Sein eigentlicher Herrschaftssitz in Altenburg erschien nicht als geeigneter Rückzugsort. Er mauerte schon Anfang der 1920er Jahre eine „Zeitkapsel“ mit Papiergeld in einem „begehbaren Safe“ ein. Das Unheil der Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging also auch nicht an ihm spurlos vorüber. Mehrere Jahrzehnte diente dann das Schloss als „Jugendwerkhof“ für „schwer erziehbare Jugendliche“ und in den 90er Jahren als „Jugendlernhof“. Restauratorische Arbeiten wurden vor Jahrzehnten auch von talentierten Jugendlichen vorgenommen.
Jagdschloss Fröhliche Wiederkunft in Trockenborn-Wolfersdorf
Eine Besichtigung des Schlosses ist vor allem deswegen interessant, weil es architektonisch herausragende Elemente mehrerer Jahrhunderte zusammen mit offensichtlichen Stil-Brüchen dem Betrachter vor Augen führt. Es wäre lohnenswert, wenn in Zukunft mehr öffentliche Zuschüsse in weitere Renovierungsarbeiten fließen würden.
Kurzum: An jenem 29.07. fühlte ich mich selbst wie in einer Raumkapsel, der im 21. Jahrhundert Boden der früheren Jahrhunderte betritt, die sich wie in nebeneinander liegenden Miniaturwelten offenbaren.
Informationen zum Schloss „Fröhliche Wiederkunft“ und zum Waldbad „Herzog Ernst“ sind hilfreich, gerade hinsichtlich der wechselnden Öffnungszeiten. Zur Schlossgeschichte stieß ich in der Zwickauer Ratsschulbibliothek auf einen kurzen Aufsatz von Joachim Thiele mit dem Titel Jagdschloss Wolfersdorf „Fröhliche Wiederkunft“ aus der im Greizer Land erschienenen Zeitschrift Der Heimatbote (Ausgabe 5, 2010), die leider eingestellt wurde. Aus diesem Aufsatz stammen die Zitate. Vielen Dank an die Bibliotheksmitarbeiter für die freundliche und rasche Bereitstellung des Artikels! Ein Dankeschön gilt auch an die Bundesfreiwilligendienstleistende Josephine Hoffmann, die mich mit zwei weiteren Personen durch das Schloss führte. Und zuletzt an Siegfried Häfner, der als Bürgermeister mir Tür und Tor zum Waldbad öffnete.
Das südliche Vogtland mit den Kurorten Bad Brambach und Bad Elster liegt im südlichsten Winkel Sachsens und damit auch Mitteldeutschlands. Wer es bis dahin geschafft hat, wird Ruhe und womöglich auch Erholung finden, seien es auch nur für wenige Stunden. Der Musikantenradweg ist eine gute Möglichkeit, diese Region mitsamt dem ‚Musikwinkel’, wo bis heute Streichinstrumente höchster Qualität gefertigt werden, zu erkunden.
Meine mit gut 15 km wirklich kurze Radtour im Juni führte von Bad Brambach (von Zwickau / Plauen leicht mit der Vogtlandbahn zu erreichen) über Landwüst, wo sich in Ortsnähe auf dem Wirtsberg ein wunderbarer Aussichtsturm befindet (mit Blick hinein ins böhmische Becken), bis nach Sohl, einem Ortsteil von Bad Elster. Unweit des Sohler Bahnhofs gibt es einen kleinen Badeteich, wo man sich wunderbar kurz vor der Rückfahrt erfrischen kann.
Die kurze Tour wird mir vor allem dank des Waldimbisses ‚Zum Hammer’l’ im Weiler Hennebach in Erinnerung bleiben. (Leider führt der offizielle Musikantenradweg nicht daran vorbei, so dass ein kurzer Abstecher nötig ist.) Allein die Lage in unmittelbarer Nähe zu Tschechien (buchstäblich ist es ein Katzensprung bis ins Nachbarland) ist mehr als eine Erwähnung wert. Über eine stille einsame Straße (eine Sackgasse für Autofahrer) geht es an diesen wunderbar entrückten, nicht ausgeschilderten Ort. Ohne Online-Kartenstudium hätte ich ihn nicht niemals gefunden.
Man fühlt sich intim wie in einer Gartenkolonie für kurze Zeit aufgenommen, weil die wenigen Tische wie in einem privaten Garten aufgestellt sind. Laut Besitzerin ist ein fast 100-jähriger Stammgast gerade anwesend, der gut in eine familiäre Runde eingebunden scheint. Auf Nachfrage erfahre ich, dass vor der Zeit des Eisernen Vorhangs der Weiler deutlich größer gewesen sei. Die Zahl der heute noch intakten Grundstücke kann man an einer Hand abzählen. Ohne ein längeres Gespräch zu führen genieße ich für eine halbe Stunde einfach nur den Augenblick. Die wenigen angebotenen Speisen und Getränke gibt es anderswo auch, doch nur selten in dieser lauschigen Atmosphäre. Ich bin als Radfahrer mit einem alkoholfreien Bier zufrieden.
Idylle am Waldimbiss ‚Zum Hammer’l’ im Weiler Hennebach (bei Bad Brambach)
Bevor ich aufbreche, möchte ich noch vor Ort etwas Konkretes hören oder anschauen. Eine Anekdote hat die Wirtin gerade nicht parat, doch ich stoße auf einen schlichten dialektalen Kurztext am Eingang der Gaststube, die wie ein Gartenhäuschen daherkommt:
Kurztext Perpetuum mobile im vogtländischen Dialekt (unbekannter Verfasser)
Als ich mir diesen Text erneut anschaute, fühlte ich mich bereits in Bayern. Wie kaum eine andere Region in Deutschland ist das Vogtland (mit sächsischen, thüringischen und bayrischen Ortschaften) trotz der Abgeschiedenheit eine sprachlich hybride Region par excellence. Die Schlüsselworte „Raadla“ (Fahrrad), „Benzingöld“ (Benzingeld), „Böia“ (Bier) und „kaafm“ (kaufen) sind noch einfach zu verstehen, doch was ist mit dem „naouchat“ bzw. „naouchet“? Obwohl ich vor Ort nachgefragt habe und ich mir sicher war, dass ich die Auskunft behalten würde, musste ich erneut nachschlagen. Erst nach einiger Zeit wurde ich fündig: Die Fundgrube Bayerns Dialekte Online (BDO) zeigt mir an, dass das Wort – als Suchbegriff gibt es nur auf ‚nachet’ eine Antwort – ‚dann’ bzw. ‚danach’ oder ‚nachher’ bedeutet, was in der Logik auch Sinn ergibt. Zusammengefasst ist der Text eine eigenwillige Werbung fürs Radeln: Mit dem durch die Muskelkraft eingesparten Benzingeld lässt sich Bier kaufen, womit man neue Kraft tanken kann, was wiederum zum Radfahren nützlich ist. Und dann ist das „Perpetuum mobile“ komplett. Wenn man komplizierte Begriffe immer so leicht veranschaulichen könnte!
Ich denke an einen nimmermüden Radler, der Bier als Energieträger auf einer Reise durch die Welt konsumiert. Wie weit würde er damit kommen, gerade wenn er die alkoholfreie Variante wählt? Wahrscheinlich ziemlich weit, gerade wenn er sich auf ein gutes Gefährt verlassen kann. An jenem 18.06. komme ich jedoch nicht an meine persönlichen Grenzen. Die geografische Grenzerfahrung hat eindeutig ausgereicht!
Leider ist (Stand: Juni 2023) der Imbiss nur zweimal die Woche (Mittwoch- und Sonntagnachmittag) geöffnet. Auch hier ist deswegen sehr gutes Timing gefragt! Ich habe keine weitere empfehlenswerte Internetseite (einige Seiten lokalisieren den Imbiss sogar in Tschechien!) gefunden, deswegen gebe ich nur die Telefonnummer des Waldimbisses an: 037438 – 21733 (Mitte August 2023 ist der „gewünschte Gesprächspartner nicht erreichbar“.)
Schaut man sich zwei Buchcover von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) an, so scheinen collagenartige Abbildungen sehr gut zum multiperspektivischen Stoff zu passen:
Buchcover von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. dtv, 1990.
Buchcover von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz in der englischen Übersetzung, Penguin Classics, 2019.
In der von der Berlinischen Galerie von Anfang November 2022 bis Anfang Februar 2023 gezeigten Ausstellung Magyar Modern bildeten viele eher unbekannte Werke ungarischer Künstler unter anderem das Berliner Stadtleben zwischen 1910 und 1933 ab. Eine ausgestellte Collage blieb mir dabei am meisten im Gedächtnis. Sie heißt ebenfalls Berlin Alexanderplatz und entstand zwei Jahre vor Döblins Roman zu einer Zeit, als der U-Bahn-Bau im wahrsten Sinne des Wortes den gesamten Platz umwälzte. Der Künstler Lajos d’Ébneth (1902-1982) war mir bis dato womöglich schon bekannt, da seine abstrakten Kompositionen in unterschiedlichen Techniken mit dem Bauhaus-Stil in Verbindung stehen. Einfache raumbildende Strukturen sind auch in dem ungewöhnlichen Werk sichtbar:
Nach Auskunft von Philip Gorki, Archivar in der Berlinischen Galerie, scheint (noch) kein Aufsatz zu diesem Werk, das für die Ausstellung vom Centraal Museum in Utrecht zur Verfügung gestellt wurde, zu existieren. Das Gute daran ist, dass ich so ohne Expertenwissen mir selbst einen Zugang zu dieser Collage verschaffen kann: Mich beeindruckt die ungewöhnliche Perspektivierung der dargestellten Passanten und der baulichen Strukturen, die der Kulisse sowohl Fülle als auch Leere und Elementen aus der Wirklichkeit etwas Unwirkliches verleiht. Der Alexanderplatz wird bei Ébneth nicht in Gänze nachgebildet, sondern mit futuristischer Architektur mitsamt dem Menschenstrom auf die zentralen Charakteristika des Platzes reduziert, nämlich auf die damals vorhandenen drei Kaufhäuser (Hahn, Tietz, Wertheim) sowie den Fußgänger- und Autoverkehr.
Als ich im September 2007 öfter den Alexanderplatz besuchte, war mir in der Wirklichkeit jegliche Faszination abhanden gekommen. Die Eröffnung des Einkaufszentrums Alexa wurde in der Presse vor allem deshalb erwähnt, weil es aufgrund von Tumulten von Schnäppchenjägern einige Verletzte gab und sogar ein Sicherheitskonzept hermusste. Ein wirklich trauriges Schauspiel, das der Tagesspiegel damals unmissverständlich festhielt! Als ich einige Tage später das Alexa besuchte, vermisste ich die Fenster in Richtung Außenwelt (sie sind vor allem an den Eingangsbereichen vorhanden, aber eben nur recht spärlich). Ich hatte fast Mitleid mit den dort Beschäftigten, weil das Tageslicht scheinbar gänzlich fehlte! Wie konnte diese triste Atmosphäre zu einem Shopping-Erlebnis führen? Wenn ich mehr als 15 Jahre später in der S-Bahn am Alexa vorbeifahre, bleiben die negativen Assoziationen im Kopf. Und dabei hat der Alexanderplatz doch zeitgeschichtlich viel zu bieten! Zwischen einmaliger Historie (vor allem dank der dort stattgefundenen Reden während der Wendezeit) und der austauschbaren Shopping- und Gastronomiewelt, für die heute der Alex steht, könnte kaum ein größerer Kontrast herrschen.
Lajos d’Ébneth hat in seiner Collage Wort- und Bildkreationen geschickt platziert. Wörter wie „Wunderseife“ oder „Cold Cream“ lassen an verführerische Artikel denken. Sie werden auch heute noch eingesetzt. Das in unterschiedlichen Farben vorkommende „DEDE“ sowie das vertikal angeordnete „OJA“ scheinen der Phantasie entsprungen, doch dem ist nicht so. Ein Deutscher mag hier reine Lautmalerei vermuten, doch in Ungarn und in der Türkei bezeichnet ‚Dede’ einen Großvater (im Tschechischen gibt es übrigens das ähnliche Wort ‚děd’ ). Auch als Anrede bzw. Titel in islamischen Gemeinschaften wird ‚Dede’ verwendet. Im Rumänischen bedeutet ‚ojă’ Nagellack, was auch gut zum (Werbe-)Kontext passt. Aus der Aufschrift ‚SENZA BENZ’ am Fahrzeug ganz links kann man so viel wie eine ironische Werbebotschaft („ohne Benz“) herauslesen, wenn man „senza“ italienisch deutet. (Leider kann man das Wort auf der hier verkleinerten Abbildung durch das abgeschnittene ‚s’ nicht erkennen.)
In der Collage kommt die Welt mit ihren Facetten zum Ausdruck: Das in einem ungewöhnlichen Verpackungsdesign präsentierte Shampoo Pixavon, eine damals verbreitete reale Marke der in Dresden produzierenden Lingnerwerke AG, die auch das Odol-Mundwasser auf den Markt brachten, wird mit einer quasi hier als Werbeträger fungierenden Person afrikanischer Abstammung zusammengebracht und somit als eine Art Weltkulturprodukt präsentiert. Man könnte meinen, dass das Shampoo in Afrika entwickelt und hergestellt worden sei! So werden in der Zeit des Kolonialismus auch bewusst traditionelle Vorstellungen von üblicher Werbe(bild)sprache hinterfragt. Auch Akrobatik wird zur Schau gestellt, was mich an die expressionistische Kunst jener Epoche denken erinnert. Das aufkommende Automobil dominiert natürlich als Werbebild und auch als raumfüllendes Element die Collage.
Eindeutig ist hier die Vielsprachigkeit und auch die Vielfältigkeit des Alexanderplatzes in den 1920er Jahren erkennbar. Lajos d’Ébneth lebte nie länger in Berlin und hatte vermutlich nicht im Sinne, lokale (Bauhaus-)Pläne, die ja mit dem Alexanderhaus und dem Berolinahaus um 1929 vor Ort auch realisiert wurden, zu kommentieren. Ob die Forschung dazu noch etwas ans Tageslicht fördern wird? Jedenfalls wird er nach einem Besuch in Dessau 1926 dem Bauhaus-Umkreis zugeordnet. Ein Stück Wirklichkeit und ein Stück Vision von der Miniaturwelt am Alexanderplatz werden in der Collage allgemein mit neuwertigen architektonischen Strukturen des Jahrzehnts amalgamiert. Anders als in rein abstrakten Gemälden des Künstlers wird hier das Leben in der Großstadt spürbar und mit seiner faszinierenden Unübersichtlichkeit und Uneindeutigkeit dem Betrachter vor Augen geführt.
Unter diesem Link der Sammlung Online (Berlinische Galerie) kann man die Collage auch in sehr guter Auflösung im Detail betrachten. In einer taz-Online-Rezension von Paula Marie Kehl zur Ausstellung wird die Collage auch gezeigt und in der Bildunterschrift dazu kommentiert: „Berlin inspirierte zu gewagten Formen“. Ein interessanter Blogartikel von Alexander Glintschert widmet sich der Warenhaus-Historie auf dem Alexanderplatz.
Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache hatte um das Jahr 2000 herum das Wort ‚verjazzen’ Hochkonjunktur. Ohne dieser Angabe nun näher nachzugehen lässt sich sagen, dass man auch schon vor dem Beginn des 21. Jahrhunderts klassische Kompositionen gern neu arrangierte und dabei Jazzakkorde und -kadenzen eingesetzt wurden. Man denke an das Tonmaterial von Johann Sebastian Bach, das sich hierfür hervorragend eignet.
Johanna Summer: Schumann Kaleidoskop. Act Music, 2020.
Man wird wohl schwerlich eine seriösere Auseinandersetzung mit dem Original finden als bei Johanna Summer, die Mitte der Neunziger Jahre in Plauen geboren wurde. Dass ihr Album Schumann Kaleidoskop bei Act Music herauskommen ist, zeigt bereits die hervorragende Qualität. Der Slogan des Labels „In the Spirit of Jazz“ lässt sich bei Summer in jedem Takt heraushören, wenngleich ich die Live-Performance beim Schumann-Fest in Zwickau noch deutlich eindrucksvoller fand als die CD-Aufnahme. Das hat womöglich zwei nicht-objektivierbare Gründe:
Faktor Intensität: Die Kombination von zwei Schumann-Stücken pro Track bzw. pro Programmelement erstreckt sich im Live-Konzert auf ca. 20 Minuten, während sie auf der CD nur etwa halb so lang ist. Diese zeitliche Dehnung ist natürlich flexibel, weil es sich ja um Improvisationen handelt und jedes Mal dabei etwas anderes herauskommt. Eine Studioaufnahme bringt ein anderes Ergebnis hervor als ein Konzert. Und möglicherweise spräche gegen einen Konzert-Mitschnitt, dass man sich auf Tonträgern lieber kürzere Einheiten anhört. Auf jeden Fall ist es auffällig, wie stark der Höreindruck variiert, obwohl doch das Konzept gleich ist. Genau zehn Minuten dauert der erste Track, der Original-Klänge der Stücke Glückes genug aus den Kinderszenen (op. 15) und Erster Verlust aus dem Album für die Jugend (opus 68) von Robert Schumann beinhaltet. Ich finde, dass ein Kaleidoskop eine schillernde Betrachtung impliziert, dessen Facettenreichtum idealerweise in einem längeren Konzertstück in Erscheinung tritt. Und da wirken 20 Minuten einfach intensiver, da der Zuhörer quasi über Klangmalerei einen umfangreicheren Hörkosmos betritt. Es scheint unmöglich (auch wenn es nicht der Fall ist), diesen Kosmos auf bedruckten Notenblättern zu bannen, da sich bei der Auseinandersetzung mit Tonmaterial hier keine lineare Darstellung aufdrängt. Es kommt einem wie eine Tiefenbohrung quer durch Tonschichten bzw. Klangschichten vor.
Faktor Präsenz: Der etwa 90-minütige Auftritt auf der Hauptbühne beim Schumann-Fest, ganz in der Nähe des Schwanenteichs, brachte die Klangmalerei besonders einmalig zur Geltung: Einerseits die technische Komponente der geschickt gestaffelten Akkorde, die über die (womöglich nicht ganz perfekt eingestellten) Verstärker teilweise schroff ins Publikum schallten, andererseits die gefühlvollen Modulationen, die auch von den in nahen Baumwipfeln sitzenden Vögeln akustisch ergänzt wurden. Auf der großen Wiese waren die Stuhlreihen eher locker besetzt; sehr beliebt schienen hingegen hingegen die einzelnen überdimensionalen Lounge-Kissen zu sein. Doch hier fehlte mir die erforderliche Aufmerksamkeit für die Künstlerin, so dass ich mich im Laufe des Konzerts in die vorderste Reihe vorarbeitete. Johanna Summers Musik wirkte auf mich wie ein Sog, ohne berauschend zu sein. Dies merkte ich von Anfang an, als mich vom nahen Roller-Parkplatz kommend die Klänge mich an den Konzertort quasi hinführten. Mehr denn je spürte ich, dass die körperliche Präsenz das Abstrakte des Jazz nahbarer macht. Gerade die Takte, die Schumann pur wiedergaben, hörte ich zusammen mit der jazzmusikalischen Verarbeitung im wahrsten Sinne des Wortes besinnlicher als in einem klassischen Kammerkonzert, wo das traditionelle Genre (Kammermusik) erwartbarere Klänge hervorbringt.
Ohne großes Nachdenken kann ich nun diesen besonderen Musikabend mit einem Epilog abrunden. Als ich mich am Schwanenteich stärkte, kam ich ins Gespräch mit einer jungen Familie. Wohl war dafür ausschlaggebend, dass ich mich sehr dem Wasser nährte: „Überlebenskünstler“ schallte es mir entgegen. Ich traute meinen Ohren nicht, da ich noch im Unterricht einige Tage zuvor über den schönen Ausdruck ‚Lebenskünstler’ gesprochen hatte. Ich dachte an eine Wortspielerei, doch nein, dem ist nicht so: Im Internet ist das Wort angekommen: „Person, die alle Probleme und Widrigkeiten erfolgreich übersteht.“
Was soll mir diese Botschaft sagen? Ich finde sie nicht besonders originell, doch wenn man mit dem Begriff spielt, kommt Über-Lebenskünstler dabei heraus. Und hier merke ich, dass mir hier die Jazzmusik helfen kann. Aus ihr spricht nicht nur musikalische Könnerschaft, sondern auch Lebenskunst. Ich wage einmal folgende These: Jeder, dem Jazzmusik zusagt – die Klangmalerei von Johanna Summer ist dafür ein hervorragendes Beispiel – ist ein Lebenskünstler.
Bei Act Music sind als CD und als Vinyl LP zwei Alben von Johanna Summer erhältlich: Schumann Kaleidoskop und Resonanzen. Johanna ist auch an weiteren Alben als ‚Sideman’ beteiligt. Tourtermine gibt es u.a auf ihrer Homepage.
In den Jahren 2006 / 2007 bin ich bei Casino sicherlich einige Hundert Euro losgeworden. Wohlgemerkt nicht im Casino! Ich meine nämlich die französische Supermarktkette, die knapp ein Jahr meines Lebens oft eine Anlaufstelle für Besorgungen im Alltag war.
Erst kürzlich, nach der Lektüre von Selbstporträt mit Bonaparte (2012) von Julia Schoch, bin ich auf diesen Gedanken gekommen, dass auch der Gang ins richtige Casino zur Routine werden kann. Eigentlich habe ich dieses Buch ohne große Begeisterung gelesen, doch die Nachbetrachtung bringt mich zu dem Ergebnis, dass die Inhalte sich ohne jegliches Pathos um die großen Themen Liebe, Spiel und Glück drehen. Das Casino dient dabei als geeignete Kulisse.
Schon auf der ersten Seite steht die Zahl 688. So oft war die Ich-Erzählerin im Casino zu Gast. Das muss man erst einmal schaffen. Die wenigen Zeilen zuvor sind als Romananfang ganz besonders gut gewählt:
Und dann, in jener langen Sekunde, wenn die Kugel noch unterwegs ist, wenn sie sich noch nicht entschieden hat für eine Zahl, ist alle Zeit ausgelöscht. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Für diesen einen Moment kann man beruhigt sein, die Welt, sie wartet noch. In welch sonderbarer Zeit spielt das, was ich erzähle?
Der Roman verweigert sich einer chronologischen Handlung; dafür ist er auch nicht geschrieben. Wie das Cover schön darstellt, haben wir es mit Momentaufnahmen einer Liebe zu tun, die nicht mehr existiert:
Cover des Romans Selbstporträt mit Bonaparte (2012) von Julia Schoch (Piper Verlag)
Ganz zum Schluss wird die Gegenwart mit einem „undurchdringlichen Später“ und das Leben mit einem „Dasein in solch einem Hotelzimmer“ verglichen, „in dem man auf dem Bett unter einem geöffneten Fenster liegt.“ Das dortige Warten füllt eine „erschöpfte, auf jeden Fall übrig gebliebene Leidenschaft“ aus, so dass das Früher mit hineinragt. Die Erzählerin folgt hier dem legendären österreichischen Roulettespieler Erich Puch, der sich angeblich nach dem Spielrausch in Hotelzimmer flüchtete, um erfolglos zu versuchen, „an die Zukunft zu denken, an etwas, das das GANZ ANDERE wäre, etwas noch Unvorstellbares“.
So liegt es nahe, das Vergangene, also das Früher in Worte zu fassen. Laut der Erzählerin gebe es eine „Art rückwärtiger Existenz“, „auf die es tatsächlich ankommt.“ Weniger würde diese lebenslaufrelevante Einzelheiten beinhalten als vielmehr Nebensächlichkeiten, wie zum Beispiel Casinobesuche. Deswegen wird das Casino als Ort auch nicht umfassend als Schauplatz beschrieben; es wirkt mehr wie ein Routine-Ort („kein Klub oder Geheimbund“), der sich nicht von anderen abheben soll. Erzählerisch ist dies eben unauffällig und zugleich überzeugend gelöst. Nicht der Ort, sondern das Spiel namens Roulette ist „der Inbegriff einer gänzlichen anderen Welt“, anders als das „Leben in einer verschlafenen Kleinstadt am äußersten Rand eines verriegelten Landes“, in dem die aus Bad Saarow in Brandenburg stammende Autorin Julia Schoch durchscheint. Da ich zu Pandemiezeiten Bad Saarow besuchte, habe ich eine lebhafte Vorstellung davon, wie man als Schriftstellerin zu solch einem Satz kommt. Das soll als biografische Randnotiz genügen.
Außerdem wird das Spiel als „das Ritual“ der geschilderten Liebe angesehen. Es ist eben keine bloße „Metapher“ und es steht auch nicht für „Verirrung“. Man hat als stets den Eindruck, die beiden Spieler behalten die Kontrolle über das, was sie tun. Kein Spielrausch, keine Spielsucht ist zu erkennen. Insofern gibt es auch keine Dramatik in diesem Text. Erklärungsversuche zur gescheiterten Liebesbeziehung unterbleiben, so wie auch Spielserien im Casino eher Chaos widerspiegeln als irgendeine logische Ordnung.
Kennengelernt haben sich die beiden Protagonisten ironischerweise auf einer „Konferenz für Historiker, die den Titel trug Ansichten der Vergangenheit oder Vergangene Ansichten, vielleicht auch Angesichts des Vergangenen.“ Von Chaos ist also beruflich keinesfalls die Rede, eher von einer mangelnden Präzisierung bestimmter Ereignisse! Hier wird deutlich, dass es programmatisch im Roman darum geht, wahrheitsstiftende Bilder der Vergangenheit zu erzeugen, wobei das Vergangene im Titel bewusst unscharf bleibt. Und somit sind auch die Bilder nicht vollkommen scharf zu stellen. Dass Bonaparte daheim mit einer ungewöhnlich gestalteten, beim ersten Rendezvous mit dem Erzählerin-Ich kaum auffälligen Napoleon-Büste aufwarten kann, ist geschickt inszeniert, da die Ähnlichkeit mit dem Herrscher sich keineswegs aufdrängt („Er sei mindestens drei Köpfe größer und habe daher keinerlei Lust zu erobern, was oder wen auch immer“). Sein wirklicher Name bleibt dem Leser verborgen; Bonaparte ist ein Einfall der Erzählerin. Auch hier entzieht sich der Roman des bloßen Abbildhaften und versucht bewusst, mentale Bilder zu verzerren. Er hinterfragt chronologische Zusammenhänge und sicherlich Ursache-Wirkungsbeziehungen. So wie man in Spiel auch nicht klar Erfolge begründen kann: Spielglück kennt einfach keine Ursache!
Anschlussfrage: Ist das Schreiben in der Auswahl der Worte nicht auch ein Spiel? In einem Seminar zum Spiel in der Literatur hätte Selbstporträt mit Bonaparte einen Ehrenplatz sicher!
Auf der Homepage des Piper Verlags ist das Buch nur noch als E-Book lieferbar. Lesenswert sind die Rezensionen im Deutschlandfunk und im Spiegel. Die Zitate stehen (nach aufsteigender Seitenzahl geordnet) auf den Seiten 9, 12, 17, 19, 28, 50, 54, 141, 142. Die kursiven und in Großbuchstaben gedruckten Wörter stehen auch so im Original.
In der Oberstufe konnte ich wenig mit Georg Büchners Woyzeck anfangen. Nun habe ich mir Alban Bergs Oper Wozzeck vorgenommen, um den Stoff noch einmal zu ergründen. Dabei wird mir ein Gemälde von Wilhelm Joseph Heine (1813-1839) aus dem Jahre 1838 helfen, das ich Anfang des Jahres im Museum der bildenden Künste in Leipzig gesehen habe. Allein der Titel Gottesdienst in der Zuchthauskirche ist alles andere als gewöhnlich:
Wilhelm Joseph Heine: Gottesdienst in der Zuchthauskirche (1838); Herkunft/Rechte: Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Andres Kilger
Es handelt sich um ein „politisches Zeitzeugnis der deutschen Kunst des Vormärz“; dabei ist die „kultivierte Farb- und Lichtgestaltung“ ein besonderer Hingucker. Der revolutionäre Geist des Bildes ist bereits in der Perspektive wahrnehmbar, da der Blick des Betrachters eben nicht in Richtung Altar gerichtet ist und kirchliche Insignien weitgehend fehlen. Man kann nicht umhin, sich auf die Antlitze der Insassen zu konzentrieren, die in ein ganz intensives Licht getaucht sind. Natürlich kommt das Licht von oben, also vom Himmel herab, so dass man es auch als göttliches Licht interpretieren könnte. Entscheidender finde ich, dass Individuen auch mental in ihrem Geiste erleuchtet werden, um damit politische Überzeugungstäter zu verkörpern. Das Licht-Symbol steht auch für irdische Erkenntnisse, mit denen Gesellschaften mehr und mehr demokratisiert worden sind. Hierin liegt die Brisanz des Gemäldes, denn die Abgebildeten sind ja hauptsächlich wegen ihrer unliebsamen Gesinnungen an dem Ort zu finden.
Der geschulte Kunsthistoriker-Blick mag auch erkennen, dass Heine „zum Zeichen der Verbundenheit“ vor allem in die Figur des neben den Bewachern stehenden Mannes mit verächtlicher Miene „selbstbildnishafte Züge“ eingearbeitet habe. Er trägt einen „Weberkittel“, was einem Betrachter wie mir auch nicht aufgefallen ist. Für den Laien ist sofort ersichtlich, dass Gespräche und Buchlektüren im hinteren Kirchenbereich damals nichts Ungewöhnliches waren. Insofern erscheint das heutige Kirchenvolk geradezu aufmerksam, wenngleich sich natürlich die Kirchenbesuche seitdem deutlich verringert haben.
In den gemalten Figuren kommen nach meiner Lesart individuelle Gesichtszüge klar zur Geltung. Man kann Charaktereigenschaften hier quasi aufleuchten sehen. Der junge Mann, der recht entspannt gegen die mächtige Säule lehnt, ist ebenfalls ins besonders helle Licht gerückt und richtet selbstbewusst, wenn nicht gar trotzig als einer der wenigen den Blick nach vorne. Ob er den Gottesdienst zur Klage gegen sein Unheil nutzt?
In jedem Fall hat der früh verstorbene Künstler hier einen unglaublich tiefsinnigen Einblick in Gemüter mit einer revolutionären Gesinnung gewährt. Was wohl zeitgenössische Betrachter gedacht haben mussten?
Angesichts der harten Lebensumstände in einer Anstalt muss ein Gottesdienst eine vorübergehende Erholung vom Alltag gewesen sein. Man konnte besser als sonst mit seinen Gedanken eine Verbindung zu seinen Mitmenschen und natürlich zu Gott aufbauen, wenn man das Bedürfnis dazu spürte.
Soziale Begegnungen waren ja nicht selbstverständlich während der Haftzeit. Es hat den Anschein, als ob hier die Gespräche frei und ohne stärkere Überwachung ablaufen konnten. Der Besuch in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt und heutigen Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im April 2023 hat mir erneut gezeigt, dass psychologische Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts auch zur drastischen Verschärfung von Haftbedingungen führen konnten. Dort waren die Häftlinge sich keinesfalls darüber im Klaren, wo sie sich genau befanden. Begegnungen mit Gleichgesinnten waren ausgeschlossen. Insofern ist Heines Gemäldes auch ein Bild, in dem gedankliche Freiheit als Momentaufnahme erspürt werden kann. Auch in Haftzeiten kann man sich gegenseitig zur mentalen Befreiung Gedankengut näherbringen.
Die Bundesliga-Saison 2022/ 23 endete genauso mit einem Herzschlagfinale wie die Saison 2000/2001. An jenem Maitag vor nunmehr fast genau 22 Jahren fuhr ich mit dem Auto von Dieburg zum Hessentag nach Dietzenbach. Ich weiß noch genau, dass ich während der Parkplatzsuche vor Ort live im Autoradio hörte, wie Schalke 04 in buchstäblich letzter Stunde die Meisterschaft von Bayern München abgeluchst bekam. Konsterniert stieg ich damals aus dem Auto, auch wenn ich kein Schalke-Anhänger bin. Damals wurde zudem Abschied vom legendären Parkstadion gefeiert, wo ich in den Neunziger immerhin ein- oder sogar zweimal die Schalker spielen sah (Gastmannschaft war der SC Freiburg, den ich damals schon sehr schätzte).
Ich habe mich an diesen Hessentag erinnert, als ich zum wiederholten Mal den Anfang von Wilhelm Genazinos letztem Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze aus dem Jahr 2018 las:
Die Ankündigung eines Straßenfests bedeutete, dass die in einer Einkaufsstraße ansässigen Bäcker, Metzger, Juweliere, Optiker, Apotheker und so weiter für einen Tag ihre Geschäfte verließen und auf der Straße Holzbuden aufstellten und ihre Bratwürste, Vollkornbrote, Sonnenbrillen auf Holztischen verkauften, vieles etwas billiger als sonst. Andere Geschäftsleute verschenkten kleine Artikel, die sie das Jahr über nicht hatten verkaufen können. Ich gehörte zu den vielen Herumstreunern, die nicht recht wussten, was sie hier zu suchen hatten. Viele Streuner langweilten sich, andere verbrachten hier ihre Mittagspause, wieder andere ließen sich von dem Getümmel ein wenig abschrecken, um mit einem guten Grund an ihre Schreibtische oder Computer zurückzukehren.
Ich wähnte mich damals auch als Streuner, denn ein Hessentag gleicht eben einem (zu) groß geratenen Straßenfest. Ich hatte keine bestimmten Anlaufstellen, kannte niemanden in diesem Provinznest südlich von Frankfurt und habe auch deswegen keine Erinnerung mehr an bestimmte Verkaufs- oder Präsentationsstände. Damals suchte ich auch noch nicht das Gespräch, und was sollte ich eigentlich speziell auf einem Hessentag zu suchen haben?? Ein Flaneur war ich abseits der Großstadt auch nicht – diese Rolle füllt man ja nur aus, folgt man bestimmten Schriftstellern seit etwa 150 Jahren, wenn auch ein künstlerischer (Selbst-)Anspruch gegeben ist.
Der Erzähler beobachtet bei Genazino genau seine Umwelt, auch wenn er sich dabei nicht wohlfühlt: „Mein Überdruss machte mich ratlos und flößte mir ein wenig Angst ein.“ Das kann auch mit seiner Biografie in Verbindung stehen: „Ich war schon dreimal gescheitert, verteilt auf elf Jahre, einmal als Bibliothekar, dann als Wertpapierhändler und zum Schluss als Provinzredakteur.“ Im Erzählton schwingt somit das Scheitern mit hinein, und es liegt nahe, auch Bewegungsmuster im Zusammenhang mit einer gewissen Ziellosigkeit als „Herumstreunen“ zu interpretieren. Beim Flaneur ist das Ziel- und Richtungslose Prinzip und Ideal, während der Streuner eigentlich kein Ideal kennt. Oder doch?
Was für ein Zufall, dass ich diesen Monat Paul Austers Roman Timbuktu gelesen habe, der einfühlsam die Mensch/(Haus-)Tier-Beziehung auf unnachahmliche Weise poetisiert hat. Zunächst werden allgemein „Streuner“ in Zusammenhang mit gejagten Hunden vor China-Restaurants in Baltimore erwähnt, später dann spezifischer in der Beschreibung des Hunde-Herrchens Willy G. Christmas, ganz nach dem Geschmack des Vierbeiners Mr. Bones:
Sein Herrchen war ein Mensch mit dem Herzen eines Hundes. Er war ein Streuner, ein rauhbeiniger Glücksritter, ein einzigartiger Zweibeiner, der sich die Regeln nach Belieben zurechtbog.
In diesem Verhalten gleicht sich der Mensch dem Säugetier an, denn Streunen scheint anders als das Flanieren nicht von einem kulturphilosophischen Überbau gekennzeichnet zu sein: Der Flaneur ist durch und durch Kulturmensch – er schweift eher durch die Stadt – während der Streuner erst einmal seinen Sinnen folgt, was ein Hund ebenso beherzigt. Das Aufspüren wird zum Leitgedanken.
Bei aller Melancholie ist bei Wilhelm Genazino indirekt doch auch Hauch Lebenskunst spürbar, die das Scheitern nicht ausblenden kann. Der Erzähler sucht mit dessen Ex-Ehefrau Sibylle weniger das Trennende als das Verbindende in Beziehungsfragen, sonst würden sich beide nicht wieder freundschaftlich begegnen und versuchen, sich erneut anzunähern. Das Streunen, oder intensiver ausgedrückt, das Herumstreunen, enthält ja auch das Lexem „Streu“ und führt letztlich zur Zerstreuung. Kein Wunder, dass der Erzähler sich Gedanken zu einem Divertimento von W. A. Mozart macht. Solche Musikstücke dienen doch gerade der niveauvollen Zerstreuung, mehr als der bloßen Unterhaltung!
Die Genazino-Zitate sind in der Hanser-Ausgabe (inklusive Leseprobe) in der Reihenfolge ihres Erscheinens auf den Seiten 7, 10 und 15 zu finden, die Auster-Zitate sind auf den Seiten 9 und 34 zu finden (Rowohlt-Ausgabe). Ich bin Kerstin Pistorius darüber dankbar, dass sie in ihrem Blog atalantes bereits sehr originell auf das Herumstreunern bei Genazino eingegangen ist und dabei auch das schöne Wort „Zerstreuung“ verwendete. Eine weitere Online-Rezension zu Genazinos Roman von Peter Mohr findet sich im Online-Magazin titel kulturmagazin.
Es muss 2005 gewesen sein, als ich auf dem Weg von Annecy in Hochsavoyen nach Essen an Vesoul vorbeifuhr. Dieser ostfranzösische Ort an den südwestlichen Ausläufern der Vogesen ist mir seitdem vom Namen her ein Begriff. Ohne dass ich je im Ort gewesen bin, klingt Vesoul weich und versonnen. Ob der berühmte Chansonnier Jacques Brel auch, als er in den 1960er Jahren seine berühmte Chanson Vesoul schrieb, an diesen Klang dachte? Gelebt hat er dort nie, allenfalls übernachtet.
Nun, es gibt heute eine Place Jacques Brel und ein Collège Jacques Brel in Vesoul. So viel Andenken muss sein. Im Lied werden Orts- und Städtenamen kaskadenartig genannt, wobei an erster Stelle nicht Vesoul vorkommt, sondern das kleine unweit von Paris liegende Örtchen Vierzon; danach folgen Honfleur und – welch Überraschung – Hamburg! Der Sänger ist denkbar schlecht darauf zu sprechen (und deswegen singt er auch mit einer gehörigen Portion Rage), dass sein Gegenüber die Orte und Städte zu sehen bekommt, das es auch sehen will, während er leer ausgeht. Das „Akkordeon“-Gedudel in Paris ist ihm ebenso verhasst. Dem Du gelingt es ebenso, einst geliebte Orte wie Vesoul wieder zu verlassen, als es von ihnen genug hat. Und manchmal werden insgesamt gewisse Vorhaben (wahrscheinlich vom Du im Lied) zunichte gemacht, was einen bitteren Unterton erhält:
J’ai voulu voir ta sœur et j’ai vu le Mont Valerién (…)
Maintenent j’confonds ta sœur et le Mont Valérien (…)
J’ai voulu voir ta sœur et on a vu ta mère (…)
T’as plus aimé ta mère, on a quitté ta sœur
Ich habe nachgeschlagen, um eine wichtige Wissenslücke zu schließen: Der Mont Valérien, am westlichen Stadtrand von Paris gelegen, ist ein wichtiger Gedenkort für den Deutsch-Französischen Krieg und eine Opferstätte seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass dieser eher anonyme Ort im Lied Verwechslungspotenzial mit der Schwester enthält, ist genauso zynisch wie die Feststellung, dass man dieser nun den Rücken gekehrt habe, weil das Du nicht mehr seine Mutter lieb habe. Diese im Lied provokant wiedergeholt vorgetragenen Hinwendungen und nachfolgend Abwendungen werden hier auf Verwandte (und wohl auch Bekannte) übertragen. Eine gewisse Hortense ist nun auch nach gewissen Erzählungen beim Sänger-Ich unten durch, so dass er nicht mehr zu ihr ins Département Cantal fahren möchte: „De ce que je sais d’Hortense, je n’irai plus dans le Cantal.“ Diesen Stunk in einen Walzertakt zu verpacken, um die beiden kreiselnden Lebensreisen zweier Bezugspersonen zu veranschaulichen, ist große Chanson-Kunst.
Dass Ende der 1990er Jahre die Formation Queen Bee (mit Edda Schnittgard und Ina Müller als Frontfrau) eine deutschsprachige Vesoul-Version veröffentlichte und dabei abgesehen vom Titel-Ort keine weiteren Bezeichnungen übernahm, bedeutet bereits eine intensive Auseinandersetzung mit der Vorlage und gleichzeitig musikalisch eine Neu-Interpretation. Queen Bee verwandelt die Walzer-Klänge in kantige, doch bewusst meist monotone Jazz-Akkorde.
Der Text hinterfragt sich scheinbar selbst: „Du wolltest nach Vesoul / wo bitte liegt Vesoul?“ Auch die 2. Person in der Anrede wird manchmal zur 3. Person: „Sie“ bzw. „ihr“:
Du wolltest nach Bordeaux,
wir fuhren nach Bordeaux,
Bordeaux war ihr zu dumm,
wir kehrten wieder um,
ich wollte nach Cádiz,
wir fuhren nach Paris.
Weiter geht es nach Luzern (Reim auf Bern, wo es nicht hingeht), nach Lausanne (Reimvers „und dann weiter nach Cannes“) und auch nach Saas-Fee (Reim: „sie wollte in den Schnee“); des weiteren bilden weitere Reimpaare erreichte Ziele (Bahrain und Lichtenstein, Beirut und der Zuckerhut, der Niagara-Fall und Portugal, sowie Luxemburg, Lourdes und Klagenfurt und nicht zuletzt Bukarest, Brest und Budapest.) Das Sängerin-Ich würde gern mal nach Bonn und Heilbronn, Turin und Wien, in den Ural und nach Wuppertal (die Stadt, wo sie immerhin schon einmal waren!) schweifen und „bei Sylt im Watt“ und im „Kattegat“ verweilen.
Überall mag das Sängerin-Ich hinfahren, „nur nicht nach Berlin“, wo sie eingehe. Hier zeigt sich die merkwürdige Bedeutung dieses Verbs, das ja eigentlich mit ‚gehen’ einen räumlichen Bezug hat. Stets kann das ‚sie’ in der dritten Person sich durchsetzen, auch „weil sie so drauf besteht“. Deswegen geht es schließlich doch nach Berlin, dorthin, wo die „verdammte Musik“ und das „verfluchte Programm“ mit dem „ganzen Tamtam“ zu finden sei. Hier befreit sich die Begleitmusik ironischerweise vorübergehend aus der Monotonie.
Die deutsche Version gibt der Chanson kabarettistische Züge. Anders als bei Brel ist keine Verbitterung herauszuhören, sondern die Inszenierung von maximaler Gereiztheit. Bei den bereisten Städten und Plätzen gibt es eigentlich auch nichts zu beklagen. Insofern steht der Humor hier an erster Stelle. Die Reime verknüpfen Reiseziele, die nicht zwangsläufig zusammengedacht werden, so dass hier die Klang-Kunst der sich reimenden Destinationen im Vordergrund steht. Man könnte diskutieren, inwiefern Brels Chanson hier parodiert wird. Beide Liedkompositionen könnten jedenfalls gewisse Parforce-Ritte ganz ohne Pferdeeinsatz nicht origineller besingen!
Eine sehr lesenswerte Kurzbiografie zu Jacques Brel, der aus dem Großraum Brüssel stammt und in Französisch-Polynesien begraben ist, findet sich hier. Die Chanson lässt sich hier in deutscher Übersetzung nachlesen. Zu einem Vergleich lädt der Original-Text ein.
Verkehrsumtost steht die evangelische Kirche Zum Guten Hirten am Rande der Bundesallee, einer der größten Nord-Süd-Ausfallschneisen Berlins auf dem Friedrich-Wilhelm Platz im Stadtteil Friedenau. Auch die direkt unterhalb der Kirche verlaufene Trasse der U9 ist mit ihren Erschütterungen wahrnehmbar. Die Kirche bietet gerade hier einen Rückzugsraum vom harten Alltag der Großstadt. An einem Sonntag ist die Kirche als Andachtsraum für das ganze Areal ein kaum zu überschätzender Zugewinn.
Im Advent 2022 fokussierte sich mein Blick während eines bunten Kindergottesdienstes auf das Glasmosaik, das unverkennbar einen Guten Hirten abbildet. Es grenzt sich von den üblichen Darstellungen ab, da ein Mosaik das Licht in vielen Farben wunderschön bricht und in der Form oberhalb des Altars ungewöhnlich ist. Auch das Antlitz des Guten Hirten hat etwas Entrücktes und zugleich etwas Nahbares an sich. Die vier weiblich anmutenden Antlitze, die wie Himmelsrichtungen rund um den Hirten angeordnet sind, repräsentieren wahrscheinlich die Missionsschwestern, die im „Auftrag“ des Guten Hirten tätig waren. Der Kontext, der unter anderem auf die weltweit wirkende Gossner-Mission verweist, wurde hier verewigt. Offensichtlich wurde, wenn man biografische Angaben berücksichtigt, die Künstlerin Eva-Maria Lokies zusammen mit ihrem Vater Hans vom Glaubenszeugnis indischer Christen derart geprägt, dass der abgebildete Hirte von dieser Erfahrung künden soll. Hans Lokies war lange Zeit „Direktor und Inspektor“ der Gossner Mission, die vor knapp 200 Jahren in Berlin von Pfarrer Johannes Evangelist Gossner gegründet wurde. Er war auch auf dem indischen Subkontinent präsent.
Glasmosaik nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies in der Evangelischen Kirche „Zum Guten Hirten“ in Berlin-Friedenau
Die Glasrosette wäre genauso wie die Missionsarbeit ohne die Heilige Schrift so nicht denkbar gewesen. Kirchen- und Kunstgeschichte beziehen sich seit jeher auf theologische Auslegungen, worin das Gehörte bzw. Gelesene in unterschiedlichen Materialien verewigt wird. Wer auch das einfallende Licht berücksichtigen wollte, konnte mit einer Glasmalerei besondere Effekte erlangen. Glas ist ein schwer herzustellender und zu verarbeitender Werkstoff, so dass bis in die Zeit der Hochindustrialisierung nur wenige Künstler in der Lage waren, damit zu arbeiten. Chor- und Altargestaltung bieten sich dafür verständlicherweise besonders an, um das Geheimnis des Glaubens an diesen Orten noch stärker hervortreten zu lassen.
Der Hirte ist ein oft verwendetes Motiv in der Bibel. Besonders eindrücklich wird es im Psalm 23, dem Hirtenpsalm mit dem bekannten ersten Vers „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.“, im Buch Ezechiel und im Johannes-Evangelium dargestellt. Gott, der Herr, ist im Alten Testament von den Hirten seiner „Schafe“ tief enttäuscht. Die Herde, das Volk Israel, hat bekanntlich harte Zeiten durchlebt, bevor es nach den Worten des Propheten Ezechiel vom Herrn gerettet wird:
Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollten nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein. (…) Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben.
EZECHIEl 34, Verse 10-12
Jesus erweitert den Aspekt der Rettung vor Gefahren, wenn er im Johannes-Evangelium zusätzlich sein Wirken in der Analogie der Tür konkretisiert :
Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (…) Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
JOHANNES 10, Verse 7-9, 11
Die zweiteilige Rolle als Tür und als Hirte könnte so interpretiert werden, als dass der Sohn Gottes den Zugang zum Himmelreich ermöglicht und gleichzeitig sich für seine Nachkommenschaft hingibt.
Eva-Maria Lokies konnte sich auf einen hervoragenden Produzenten verlassen, ohne den eine solches groß angelegtes Werk kaum möglich gewesen wäre: Die Berliner Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Treptow hatte die Rosette im Jahr 1949 hergestellt und geliefert, nachdem Kriegseinwirkungen die Originalausstattung zerstört hatten. Sie ist mitsamt dem repräsentativen Firmensitz seit Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre von der Bildfläche verschwunden. Mehr als 150 Jahre, etwa von 1890 an, vor allem dank des Engagements des Kaufmanns August Wagner und des Ingenieurs Friedrich Puhl, hatte die Firma durch die wechselvollen Zeiten hindurch eine Monopolstellung für sämtliche Aufträge im Bereich Glasmosaikkunst inne. Mehr Weltruhm konnte man in diesem Metier kaum erlangen. Vor der Gründung der Firma waren Auftraggeber auf italienische Glasmosaik- und Glasmalerei-Werkstätten angewiesen gewesen.
Am Ostermontag 2023 sahen wir in der Dorfkirche Marzahn weitere Glasmosaiken von Eva-Maria Lokies: die vier Evangelisten und der gekreuzigte Christus sind ebenfalls unverwechselbar, nicht nur aufgrund der Farbwirkung.
Der Evangelist Markus: Glasfenster von Katharina Peschel nach einem Entwurf von Eva-Maria Lokies, Dorfkirche Marzahn, 1949/50
Lokies’ Werk, vor dem Bau der Berliner Mauer fertiggestellt und installiert, hat die Zeit der Teilung überlebt und strahlt nun jeden Tag in der wiedervereinigten Stadt, je nach Wetter und Sonnenstand. Eine wiederholte Betrachtung lohnt sich daher zu jeder Witterung.
Vielen Dank an Pfarrer Peter Martins für die Bereitstellung von Informationsmaterialien zur Rosette in Berlin-Friedenau.
Als sich Anfang der 1980er Jahre die Neue Deutsche Welle aufbaute, stand eine gewisse Leichtigkeit an erster Stelle. Die deutsche Sprache, weder leicht zu erlernen noch leicht im Umgang angesichts vieler tiefenscharfer, schwer oder unmöglich zu übersetzender Termini, konnte in musikalisch abgespeckter Termini brillieren, auch wenn dabei keine musikalischen Glanzleistungen herauskamen.
Joachim Witts Hit „Goldener Reiter“ aus dem Jahr 1980 (Single-Auskopplung 1981) ist sicher kein Glanzstück, doch irgendwie bleibt das Lied, das vage von einem von der Bahn abgekommenen Leben „am Rande der Stadt“ handelt, im Gedächtnis hängen – mir zumindest. Mehr als 40 Jahre später ist nun eine italienische Kopie entstanden, deren Titel Cavaliere d’argento den Reiter versilbert. Der Grund liegt ganz einfach darin, dass die Anzahl der Silben des deutschen Adjektivs mit denen im Worte „argento“ übereinstimmen. Musik hat Vorgang gegenüber treuer Übersetzerkunst. Insgesamt wirkt die Kopie viel geschmeidiger als das Original, was nicht nur am so schönen Klang des Italienischen liegt.
Francesco Wilking von der Band Die höchste Eisenbahn hat sich letztes Jahr zusammen mit der Crucchi Gang an diese Cover-Version gewagt. Das neue Gewand hat nun Italo-Pop-Charakter, wobei der dumpfe Gesang von Joachim Witt im Original mit einer neuen Klangfarbe übertönt wird. Felix Hooss sprach im September 2020 in Anbetracht des Debütalbums in der Sonntagszeitung der FAZ von einer „Lockerungsübung“, ohne vergessen zu erwähnen, dass Crucchi eine „hässliche Bezeichnung für Deutsche“ sind. Es lässt sich erahnen: Die Gang hat auch auch andere bekannte deutschsprachige Lieder ins Italienische übertragen, zum Beispiel „Bitte gib mir nur ein Wort“ von Wir sind Helden.
Das Video zu Cavaliere d’argento erinnert mich an ein Bühnenbild, das während des Songs auf- und abgebaut wird. Es zeichnet sich durch einen symmetrischen Aufbau aus, in dem bloß zwei Hände aktiv tätig sind. Die Bild-Konstante sind vier Leitern (im Originallied ist die Leiter als Reimwort auf Reiter unverzichtbar), die scheinbar mit dem Bühnenboden bzw. der Bühnenwand verwachsen sind, wodurch das Mehrdimensionale des Raums besonders zum Vorschein tritt. Der italienische Text gleitet darüber bzw. daneben in verschiedenen Richtungen hinweg. Diese Anordnung passt zum Begriff „tangenziale“ für „Ausfallstraße“, der ja auch das Geometrische mit dem Begriff „Tangente“ impliziert. In der italienischen Version taucht die Leiter mit „poi caddi giù“ („dann fiel er ab“) übrigens gar nicht auf.
„Manicomio“ entspricht im Original der „Nervenanstalt“, „allarmi di sicurezza“ den „Sicherheitsnotsignalen“ und „micidiale schizofrenia“ der „lebensbedrohlichen Schizophrenie“, so dass hier recht nah übersetzt wurde. Die feminine Endung in „impazzita“ („verrückt“) ist sicher absichtlich gewählt, um mit der unpersönlichen Du-Anrede auch weibliche Personen einzubeziehen, da sonst „cavaliere“ ausschließlich männlich als „figlio della città“, also als „Kind dieser Stadt“ gezeichnet würde. Die Übersetzung ist hier auch positiver gestimmt, da es heißt, dass einem dort geholfen wird, falls man nicht schon verrückt geworden ist: „E se non sei già impazzita / lì certo qualcuno t’aiuterà.“ Joachim Witt nutzt den Komparativ „verrückter“ im Gedanken an eine Verschlimmerung: „Gehn Dir die Nerven durch / Wirst du noch verrückter gemacht.“
Die hinzukommenden zahlreichen floralen Elemente und ein Paar Damenschuhe – sicher eine Anspielung auf die Damenträume des Sängers im Originalvideo – ranken sich an die Leitern und werden dann im letzten Viertel des Liedes wieder entfernt, so dass wiederum das Ausgangsbild wiederhergestellt wird. Zwischen Bühnenauf- und -abbau wird zwischenzeitlich ein Vorhang zu- und aufgezogen, als von „vere cause de la malattia“ die Rede ist. Hier setzt das Lied auch kurz aus – es wirkt wie ein musikalisches Fragezeichen, um zu verdeutlichen, dass die wahren „Ursachen“ der Krankheit nicht bekämpft werden können (im Original wird das Wort „Krankheit ausgespart).
Die Blumen wirken wie eine Hommage an den silbernen Reiter, der von der Lebensleiter gefallen ist. Das Lied heitert zusammen mit dem Video eindeutig auf, so dass der düstere Text weniger Gewicht erhält. Das passt gut zu dem Gedanken, dass Musik auch befreiend und sogar heilsam wirken kann. Es tut gut, dass man sich von der Abbildung der besungenen Wirklichkeit entfernt und stattdessen eine artifizielle Bühnenwelt durch einen Vorhang geschlossen und wieder geöffnet wird. Statik und Dynamik erhalten zusammen mit der Symmetrie eindeutig Orientierung, was gerade dann von Bedeutung ist, wenn man von der Bahn abgekommen ist.
Bestellen kann man verschiedene Tonträger (Label: Vertigo Berlin) der Formation hier.
Wer von Grauzonen spricht, hat oft nur eine unzureichende oder gar keine Vorstellung davon, welche Zone gemeint ist. Meist handelt es sich um keine geografischen Zonen. Der auf russisch schreibende, in Kiew aufgewachsene Schriftsteller Andrej Kurkow hat in seinem 2018 erschienenen Roman Graue Bienen (die deutsche Übersetzung folgte 2019) die Konfliktregion Donbass in der Ostukraine im Blick, die von 2014 bis 2022, also vor der Zeitenwende, trotz der immer wieder auflodernden Kampfhandlungen nur gelegentlich in den Nachrichten auftauchte. Die Hauptfigur Sergejitsch ist Einwohner der fiktiven Ortschaft Malaja Starogradowka als Bienenzüchter und auch Einwohner der „grauen Zone“, die politisches und militärisches Niemandsland bezeichnet, denn „Grau ist die Farbe des Übergangs und der Schattierung zwischen den Polen.“
In dieser Logik erfordern militärische Auseinandersetzungen zweier Kriegsparteien als „Pole“, die sich durch keine klare Offensive auszeichnen, ein schattiertes Gebiet, das quasi als Pufferzone für beide Kriegsparteien dient:
Die graue Zone überfiel niemanden! Deshalb war sie ja auch grau, weil sich nichts in ihr ereignete und sich fast niemand in ihr befand. Und da gingen nun beide Horizonte mit Waffengewalt gegen die graue Zone vor. Obwohl beiden die graue Zone völlig egal war, sie wollten durch sie hindurch den anderen treffen. Wenn die einen wie die anderen fortgingen, dann würde die graue Zone wieder zum Mutterland!
Sergejitsch verlässt seine Heimat in Richtung Zentralukraine nur, um seine durch näherkommende Geschosse verschreckten Bienen in Freiheit ausfliegen zu lassen, damit sie endlich ihrer Arbeit nachgehen können. Er ist nach seiner Ansicht „nicht nur Herr des Bienenstandes, sondern auch gleichsam Vertreter der gesetzlichen Interessen der Bienen“. Auch wenn das Honigsammeln nicht explizit als gesetzlich verankertes (Tier-)Recht angesehen werden würde, so sind seit den 1990er Jahren EU-Tierschutzvorschriften in Kraft, in denen fünf Freiheiten für Tiere formuliert sind, unter anderem auch die „Freiheit zum Ausleben normalen Verhaltens“. In diesem Sinne ist die „Road Novel“, um einen Ausdruck von Sigrid Löffler auf Deutschlandfunkkultur aufzunehmen, ein Versuch, den für den Tiernutzen und damit auch für den Nutzen des Menschen wichtigen Aspekt der Freiheitssuche konkret darzustellen. Wenn man bedenkt, dass Bienen für ein Glas Honig „rund 40000 mal ausfliegen und dabei 4 bis 7 Millionen Blüten besuchen“ müssen, wie man in Ralph Dutlis Kulturgeschichte der Bienen mit dem schönen Titel Das Lied vom Honig nachlesen kann, dann ist der Begriff der Freiheit eng mit stofflichem Ertrag verknüpft.
Sergejitschs Reise führt in das Mutterland, wo keine Kriegshandlungen stattfinden. Im realen Dorf Wessele (ein buchstäblich fröhlicher Ort) kommt er auch näher mit einer Händlerin namens Galja in Kontakt und kann Honig zu Geld machen. Der soziale Friede ist auch dort brüchig, ein „traumatisierter Kriegsheimkehrer“ beschädigt sein Hab und Gut, unter anderem seine Bienenstöcke, die auch für den Imker als Bettstatt dienen. So beschließt Sergejitsch, Achtem, einen krimtatarischen Bienenzüchter-Freund auf der schon damals russisch besetzten Krim-Halbinsel aufzusuchen.
Bei der Einreise auf die Halbinsel werden die Bienen an der Grenze einer gründlichen Inspektion unterzogen, während Journalisten genau den Ankommenden mit seinem beschädigten Besitz filmen und ihm „Blicke zuwarfen, in denen weder Interesse noch Mitleid lag“. Der Verdacht liegt nahe, dass sie mit dem Bildmaterial im wahrsten Sinne des Wortes eine prorussische Geschichte drehen.
Bei der Ankunft stellt sich heraus, dass Achtem verschwunden ist. Seine Familie, die keinen Minderheitenschutz genießt, weist Sergejitsch den Weg zu den verwaisten Bienenstöcken. Die angestellten Recherchen verheißen nichts Gutes; es gibt keine Hoffnung, dass Achtem noch am Leben ist. Nach dessen Begräbnis wird Achtems Sohn Bekir aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Sergejitsch wird zudem beim Honigschleudern vom Geheimdienst FSB mitten in der Natur aufgespürt. Ihm wird ein Bienenstock abgenommen, um eine „veterinärbehördliche Grenzkontrolle“ nachzuholen, da es möglich sei, dass Krankheiten von den Tieren übertragen werden. Auch wenn die Kontrolle ohne Beanstandungen verläuft, hat sich etwas bei den untersuchten Bienen verändert. Sie zeigen ein merkwürdiges Verhalten: Nur mit einer „Schwarmkiste mit Deckel“ und dem Beschweren der Flügel mit Hilfe von zerstäubtem Wasser kann Sergejitsch sie wieder einfangen. Die Zeit für die Rückkehr in die Ukraine ist gekommen: Er nimmt in seinem ramponierten Auto Achtems Tochter Ajsche mit an die russisch-ukrainische Grenze, von wo sie sich auf den Weg zu seiner Ex-Frau Witalina nach Winnyzja machen soll, um dort ein Studium aufzunehmen.
Auf der Reise wird Sergejitsch von Träumen geplagt, in denen seine Bienen sich „wie Aufklärer des Militärs“ verhielten und „grau waren, weil sie einen Tarnanzug trugen, vielleicht auch nur einen Regenumhang, auf jeden Fall etwas Militärisches“. Auch nach dem Aufwachen „wirkten sie grau auf ihn!“ Das Unheil scheint sich auf die Bienen übertragen zu haben. Der Roman endet folglich tragisch damit, dass der „Herr des Bienenstandes“ sich seiner in einem der nicht kontrollierten Bienenstöcke überraschend wiederentdeckten Handgranate, die er vor seiner großen Reise daheim von einem Soldaten geschenkt bekommen und nachts im trunkenen Zustand in der Nähe seiner Bienen versteckt hatte, entledigen möchte, um nicht wegen Waffenbesitz zur Rechenschaft gezogen zu werden. Anstatt sie einfach explodieren zu lassen, nimmt er mutwillig in Kauf, den merkwürdigen, kontrollierten Bienenstock zu zerstören. Nur wenige „graue“ Bienen scheinen danach überlebt zu haben.
So handelt auch Sergewitsch schließlich irrational. Die Angst vor einer Manipulation der Bienen führt ihn zu dieser Tat, bevor er wieder zu Hause eintrifft. Das Graue steht hier für etwas Diffuses, das eher Schaden als Nutzen anrichtet. Der Alptraum hat auch Konsequenzen auf die erzählte Wirklichkeit: Die eigenen grauen Nutztiere genießen keinen Schutz vor Gewalteinwirkung mehr.
Ralph Dutli schreibt: „Es gibt eine Nachtseite des Bienenwesens, Geschichten um Tod und Vernichtung“. Diesem Gedanken folgt der Roman, da er ja auch Ein- und Auswirkungen des damals schwelenden Krieges in der Ostukraine mit dem Schicksal von Tieren verknüpft. Diese Nachtseite ist bei Andrej Kurkow auch dem Verhalten von Menschen eigen, selbst vom harmlosen Bienenzüchter und Frührentner Sergej Sergejitsch.
Der Roman lässt sich bei Diogenes bestellen (auch als E-Book). Das lange Zitat steht auf Seite 164. Die übrigen Zitate sind den Seiten 228, 262, 276, 372, 412, 429 und 441 entnommen (in der Reihenfolge ihres Auftretens im Roman). Die beiden Zitate in Ralph Dutlis Kulturgeschichte stehen auf den Seiten 18 und 133.
Die meisten Erwachsenen unter uns, die vor oder um das Jahr 2000 herum das Teenager-Alter erreicht oder hinter sich gelassen haben, können nicht nur über besondere Lebensmomente erzählen, sondern auch besondere Fernsehmomente einbringen. Diese Momente sind zugleich Bestandteile einer Fernsehgeschichte aus Nutzersicht.
Ein Roman, der literarisch Fernsehen als Phänomen beleuchtet, heißt La télévision (deutscher Titel: Fernsehen). Jean-Philippe Toussaint hat ihn 1997 veröffentlicht, bevor das Internet im großen Stil in Privathaushalten Einzug hielt und Flachbildschirme Standard wurden. Es war die Hoch-Zeit des linearen Fernsehens. Würde man eine Fernsehgeschichte aus der Perspektive der Literatur schreiben, käme man an diesem Text nicht vorbei.
Bildschirm-Schnee auf dem Cover von La télévision (2006), Ausgabe der Editions de la MinuitBildschirm-Schnee mit Rauchentwicklung: Cover von Fernsehen (2008), Ausgabe der Frankfurter VerlagsanstaltCover-Vergleich (Original und Übersetzung)
Im Roman setzt der Erzähler in unterschiedlichen, nicht immer kongruenten Erzählhaltungen mehrere Brillen auf; sein kunsthistorischer Forschungsaufenthalt in Berlin wirkt nicht streng durchorganisiert, wohingegen die Betrachtungen rund ums Fernsehen neben anderen Inhalten vergleichsweise viel Raum in der Erzählung erhalten. Die sprunghafte Erzählfreude zeigt zugleich auch ein großes Talent, kleinste Ereignisse wie mit einer Lupe narrativ zu vergrößern. Das Langsam-Meditative erhält einen hohen Stellenwert.
Natalie Potok-Saaris, Forscherin an der Harvard University, schreibt 2014 treffend:
“La télévision” emphazises the slow, meditative aspects of narrative, stressing the very qualities that make literature distinct amid a background of fast-paced and fragmented information.
Im Zeitalter mobiler Endgeräte würde man vieles ähnlich formulieren, wobei die Abhängigkeit von Bildschirmen noch viel stärker ist, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Auf jeden Fall steigerte sich das Fragmentarische und das Temporeiche im Informationsfluss des Fernsehzeitalters spätestens mit dem Aufkommen des Privatfernsehens Anfang der 1980er Jahre.
Der Erzähler hat bei Toussaint mitunter einen wissenschaftlichen Anspruch, wenn es heißt:
La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoiqu’elle en ait toutes les apparences (en plus petit, dirais-je, je ne sais pas si vous avez déjà regardé la télévision), mais de sa représentation.
Ihm geht es darum, zu skizzieren, dass wir es mit einem „Schauspiel“ zu tun haben, und zwar „nicht der Realität, (…) sondern ihrer Darstellung“. Der in Klammern gesetzte Einschub ist quasi ein Augenzwinkern, denn das Fernsehen gebe sich nun mal so aus, als ob es die Realität im „Mini-Format“ zeige. Ich stelle mir den Erzähler in einem Vortrag vor, der schon hier versucht, das Publikum mit rhetorischen Kniffen auf seine Seite zu ziehen.
Nachfolgend setzt der Erzähler die Fernsehkonsumenten-Brille auf:
Une des caractéristiques de la télévision, en effet, quand on ne la regarde pas, est de nous faire croire que quelque chose pourrait se passer si on l’allumait, que quelque chose pourrait arriver de plus fort et de plus inattendu que ce qui nous arrive d’ordinaire dans la vie.
Hier entlarvt er etwas, was der Handykonsum inzwischen mehr als bestätigt hat: Viele Nutzer schalten das Gerät öfter als gewöhnlich ein, weil wir nichts Wichtiges verpassen wollen – sei es eine wichtige Nachricht auf dem Handy oder früher eine Fernsehsendung, die als Fernsehereignis betrachtet werden kann. Früher war beispielsweise Wetten, dass…? ein Fernsehereignis par excellence, von dem man noch Tage später mitunter mehr sprach als von einem realen Ausflug. Paradox ist nur, dass wir heute dank der Mediatheken eigentlich nichts mehr verpassen können – und doch öfter aufs Smartphone schauen als ins Fernsehen. Der Glaube, dass etwas Besonderes im Fernsehen passiert, bestätigt sich oft nicht, doch allein die Möglichkeit, dass Fernsehen interessantere Bilder „produziert“ als wir körperlich-sinnlich einfangen können, rechtfertigt gerade beim Zappen den Griff zur Fernbedienung. Dabei steht fest: Die meisten Fernsehbilder sind eben nicht ereignishaft, sondern eher banal!
Heiter bis burlesk wird es, wenn der Erzähler wissenschaftlich-präzise und zugleich konsumkritisch, über eine Putzaktion des Fernsehbildschirms schreibt (fett markierte Ausdrucke werden auf Deutsch erwähnt):
Enfin, comme je m’apprêtais à quitter ma pièce avec mon pulvérisateur et ma bassine sous le bras, je jetai un coup d’œil sur le téleviseur et, remarquant qu’il était très poussiéreux lui aussi, je lui balançai distraitement une petite giclée de pulvérisateur, qui alla s’écraser en haut de l’écran en un petit amas de mousse blanchâtre effervescente, puis, pris d’un léger vertige où se mêlait sans doute le simple plaisir enfantin de continuer de tirer à une jouissance plus subtile, symbolique et intellectuelle, liée à la nature de l’objet que j’avais pris pour cible, je ne m’arrêtai plus et je vidai presque tout ce qui restait de produit dans le réservoirdu pulvérisateur, continuant à tirer à bout pourtant sur le téléviseur, appuyant sur la détente et relâchant mon doigt, appuyant et relâchant, de plus en plus vite, partout, au hasard de l’écran, jusqu’à ce que toute sa surface fût recouverte d’une sorte de couche liquide mousseuse en mouvement qui commenca à glisser lentement vers le bas en filets réguliers de crasse et de poussière melêes,enlentes coulées onctueuses qui semblaient suinter de l’appareil comme des résidus d’émissions et de vieux programmes fondus et liquéfiésqui descendaient en vagues le long du verre, certaines, rapides, qui filaient d’un seul trait, tandis que d’autres, lentes et lourdes, arrivées au bas de l’écran, rebondissait et dégouttaient par terre, comme de la merde, ou comme du sang.
Was für ein sprachlicher Aufwand, das Saubermachen in solch einen Monstersatz zu packen! Dieser Satz wird mir als Schilderung eines Mikro-Ereignisses im Gedächtnis bleiben, strukturell und inhaltlich. Der Erzähler bemerkt sein „kindliches Vergnügen am Schießen“ zusammen mit einem „subtileren, symbolischen und intellektuellen Genuss“: Das Fernsehen wird im wahrsten Sinne des Wortes zur „Zielscheibe“ für einen „Spritzer“ Spülmittel, wobei der „Hahn“ die „Patrone“ einer geladenen „Sprühpistole“ entleert. Die „regelmäßigen Schlieren aus Fett und Staub“, die „in cremigen Strömen“ nach unten fließen, werden als „flüssig gewordene Reste von Sendungen, vermischt mit alten Programmen, die in Wellen den Schirm herunterrannen“, in eine äußerst treffsichere Analogie buchstäblich gegossen. Das Abspülen oder auch Wegspülen kommt einem Entledigen gleich, parallel dazu wird Text produziert, der in seiner Fülle zu einem literarischen Ereignis wird. Denn in keinem anderen Medium ließe sich das Geschilderte so genüsslich synthetisieren wie im Roman. Abstrakte Fernsehinhalte werden wie „Scheiße“ oder „Blut“ konkret weggewischt. Statt konventioneller Fernsehunterhaltung ist hier außergewöhnliche Romanunterhaltung am Werke!
Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Bernd Schwibs. Die deutsche Version lässt sich auch als E-Book-Version bei der Frankfurter Verlagsanstaltbestellen. Dort stehen die übersetzten Passagen auf den Seiten 5f, 33 und 36.Die französischen Zitate sind der Ausgabe des Verlags Editions de Minuit (2006) auf den Seiten 12, 94f und 100 entnommen. Der zitierte Aufsatz von Natalie Potok-Saaris ist 2014 in der Zeitschrift Paroles Gelées (Band 28, Nr.1; Zitat: S.46) erschienen.